Der Drachenbeinthron
schwergefallen – es war einfach zu anstrengend. Endlich, fast eine Stunde später, stießen sie auf einen kleinen Nebenarm des Flusses, der von einem schützenden Schirm aus Schilfrohr umgeben war, wo sie haltmachen und sich ausruhen konnten.
Die Sonne war inzwischen aufgegangen, ein verschwommener, glühender Fleck hinter einem perlweißen, den ganzen Himmel bedeckenden Wolkenbaldachin. Noch immer hing dünner Nebel über Wald und Fluss, sodass ihre Umgebung einer Traumlandschaft glich.
Etwas weiter oben schien der Fluss irgendein Hindernis zu umspielen; das ruhige Schnurren der Strömung wurde durch glockenspielartige Geräusche des Wasserlaufes ergänzt, der in die Höhe sprang und plätschernd wieder herunterfiel.
Simon keuchte und beobachtete das Mädchen Marya. Sie hatte die Wange auf den Unterarm gelegt und lehnte sich an die Bootswand. Es war ihm völlig unverständlich, wie er sie je für einen Jungen hatte halten können. Was ihn an einen Fuchs erinnert hatte, die für einen Jungen ungewöhnlich scharfen Züge, schien ihm jetzt anmutig. Simon betrachtete ihre vor Anspannung geröteten Wangen, und sein Blick wanderte über die weiße Länge des gestreckten Halses zu dersanften, aber deutlich sichtbaren Erhebung ihres Schlüsselbeines, dort, wo das Jungenhemd, das sie trug, am Hals offenstand.
Sie ist nicht sehr gut gepolstert … nicht wie Hepzibah, überlegte er sinnend. Ha! Ich möchte einmal sehen, wie Hepzibah sich als Junge ausgibt! Aber trotzdem ist sie auf ihre magere Weise hübsch. Ihr Haar ist so ungemein schwarz.
Maryas Augenlider schlossen sich flatternd. Sie atmete tief. Simon streichelte gedankenverloren Qantaqas breiten Kopf.
»Gut gebaut ist sie, nicht wahr?«, fragte Binabik vergnügt.
Simon starrte ihn erschreckt an. »Was?«
Binabik runzelte die Stirn. »Es tut mir leid. Vielleicht sagt ihr auf Erkynländisch ›er‹ dazu? Oder ›es‹? Aber trotzdem musst du mir zustimmen, dass Geloë ein Werk von großer Kunst vollbracht hat.«
»Binabik«, sagte Simon, der kurz errötet war, »ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst.«
Der kleine Mann klopfte mit der flachen Hand sanft auf die Bootswand. »Was für ein schönes Werk Geloë aus Rinde und Holz geschaffen hat. Und so leicht! Ich denke, wir werden keine große Mühe haben, es über Land zum Aelfwent zu tragen.«
»Das Boot …«, sagte Simon und nickte wie ein Dorftrottel. »Das Boot. Ja, es ist gut gebaut.«
Marya setzte sich auf. »Wollen wir jetzt versuchen, uns zu dem anderen Fluss durchzuschlagen?«, fragte sie. Als sie sich wieder umdrehte und nach dem dünnen Waldstreifen blickte, den man durch das Schilf erkennen konnte, bemerkte Simon die dunklen Ringe unter ihren Augen, sah, wie erschöpft sie war. Ein wenig regte er sich immer noch darüber auf, dass sie erleichtert gewesen war, als Geloë sich bereiterklärte, das Kind zu behalten; aber er war froh, dass sie sich Gedanken zu machen schien, dass sie nicht einfach zu den Mädchen gehörte, die immer nur Lachen und Scherzen im Sinn haben.
Nein, natürlich gehört sie nicht dazu, dachte er. Eigentlich habe ich sie überhaupt noch nicht lächeln sehen. Nicht, dass unsere Erlebnisse nicht jedem das Lachen austreiben könnten – aber ich laufe ja auch nicht immer mürrisch und schlechtgelaunt herum.
»Das wäre vielleicht gar keine schlechte Idee«, sagte Binabik als Antwort auf Maryas Frage. »Ich glaube, das Geräusch, das wir dort vor uns hören, ist eine Versammlung von Felsen im Fluss. Wenn das zutrifft, hätten wir ohnehin kaum eine andere Wahl, als das Boot außen herum zu tragen. Vielleicht könnte Simon hingehen und es herausfinden«
»Wie alt bist du?«, fragte Simon Marya. Binabik drehte sich überrascht um und glotzte ihn an. Marya verzog den Mund und betrachtete Simon lange schweigend.
»Ich bin …«, begann sie dann und hielt wieder inne. »Im Octander werde ich sechzehn Jahre.«
»Also fünfzehn«, meinte Simon ein wenig selbstgefällig.
»Und du?«, erkundigte sich das Mädchen herausfordernd. Nur widerwillig antwortete er.
»Fünfzehn!«
Binabik hüstelte. »Gut und schön – Schiffskameraden sollten sich miteinander bekanntmachen. Aber … vielleicht besser später. Simon, könntest du gehen und feststellen, ob dort vorn wirklich Felsen sind?«
Simon wollte schon »ja« sagen, entschied sich aber plötzlich anders. War er ein Laufbursche? Ein Kind, das springen und für die Erwachsenen Sachen herausfinden musste? Wer hatte
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