Der Drachenbeinthron
Prinzen zur Hand
wird frei, was gefangen so lang.
Unter dem seltsamen Gedicht stand in großen, ungeschickten Runen ein einziges Wort: N ISSES.
Obwohl Tiamak starrte und starrte, fiel ihm ums Verrecken nichts mehr dazu ein. Endlich rollte er die uralte Schriftrolle seufzend wieder in ihre Hülle aus schützenden Blättern und verstaute sie in seiner Klettenholztruhe.
Was wollte Morgenes nun von ihm? Sollte er dem Doktor selbst die Schrift nach dem Hochhorst bringen? Oder sollte er sie einem anderen von den Weisen schicken, etwa der Zauberfrau Geloë, demdicken Ookequk hoch oben in Yiqanuc oder dem Mann in Nabban? Vielleicht war es aber auch das Gescheiteste, erst einmal auf weitere Nachricht von Morgenes zu warten, anstatt Hals über Kopf loszustürzen, ohne wirklich alles begriffen zu haben. Schließlich musste nach dem, was ihm Middastri erzählt hatte, das, was Morgenes fürchtete, noch weit entfernt sein; sicher blieb ihm Zeit zu warten, bis er erfuhr, was der Doktor von ihm wünschte.
Zeit und Geduld, ermahnte er sich selbst, Zeit und Geduld …
Draußen vor seinem Fenster ächzten die Zypressenäste unter dem groben Griff des Windes.
Die Tür des Gemachs flog auf. Sangfugol und die Herrin Vara sprangen so schuldbewusst auf, als hätte man sie bei etwas Unschicklichem ertappt, obwohl doch die ganze Breite des Raumes sie voneinander trennte. Als sie mit großen Augen aufblickten, rutschte die Laute des Sängers, die er an den Stuhl gelehnt hatte, herunter und fiel ihm vor die Füße. Hastig hob er sie auf und drückte sie an seine Brust wie ein verletztes Kind.
»Verdammt, Vara, was habt Ihr getan?«, schrie Josua. Hinter ihm in der Tür stand mit besorgter Miene Herzog Isgrimnur.
»Bleibt ruhig, Josua«, forderte er den Prinzen auf und hielt ihn am grauen Wams.
»Wenn ich die Wahrheit aus dieser … dieser Frau herausbekommen habe«, fauchte Josua. »Bis dahin mischt Euch nicht ein, Herzog!«
Die Farbe kehrte jetzt rasch in Varas Wangen zurück.
»Was meint Ihr?«, fragte sie. »Ihr rennt Türen ein wie ein Stier und brüllt mich an. Was ist mit Euch?«
»Versucht mich nicht zu beschwatzen. Ich komme gerade von einer Unterredung mit dem Torhauptmann; sicher wird er sich wünschen, ich hätte ihn nie gefunden, so wütend war ich. Er sagte mir, Miriamel sei gestern Vormittag abgereist, mit meiner Erlaubnis – die keine Erlaubnis war, sondern mein Siegel unter einem gefälschten Dokument!«
»Und warum schreit Ihr mich deshalb an?«, erkundigte Vara sich hochmütig. Sangfugol, noch immer sein verwundetes Instrument an sich gepresst, bewegte sich unauffällig auf die Tür zu.
»Das wisst Ihr sehr gut«, grollte Josua, aus dessen bleichen Zügen die Röte endlich zu verblassen begann, »und du, Harfner, bleib, wo du bist, denn ich bin noch nicht fertig mit dir. Du bist mir neuerdings allzu vertraut mit der Dame.«
»Auf Euer Geheiß, Prinz Josua«, erwiderte Sangfugol zögernd, »um ihre Einsamkeit zu lindern. Aber ich schwöre, dass ich nichts über die Prinzessin Miriamel weiß!«
Josua trat weiter ins Zimmer hinein und warf ohne einen Blick zurück die schwere Tür ins Schloss. Isgrimnur, behende trotz seiner Jahre und seines Umfanges, sprang mit einem Satz zur Seite.
»Gute Vara, behandelt mich nicht wie einen der Planwagenburschen, mit denen Ihr aufgewachsen seid. Alles, was ich von Euch gehört habe, war, wie traurig die arme Prinzessin doch sei, wie sehr die arme Prinzessin ihre Familie vermisse. Jetzt ist Miriamel mit irgendeinem Schurken zum Tor hinaus, und jemand hat meinen Siegelring missbraucht, um ihr den Durchlass zu sichern. Ich bin doch kein Narr!«
Einen Moment lang erwiderte die dunkelhaarige Frau seinen Blick, dann begannen ihre Lippen zu zittern. Tränen des Zornes in den Augen setzte sie sich wieder hin, und ihre langen Röcke raschelten.
»Nun gut, Prinz«, erklärte sie, »schlagt mir den Kopf ab, wenn Ihr wollt. Ja, ich habe dem armen Mädchen geholfen, sich zu ihrer Familie nach Nabban durchzuschlagen. Wäret Ihr nicht so herzlos, hättet Ihr sie mit einer Eskorte Bewaffneter selber dorthin geschickt. Stattdessen ist ihre einzige Begleitung ein freundlicher Mönch.« Aus dem Ausschnitt ihres Kleides zog sie ein Taschentuch und betupfte sich die Augen. »Jedenfalls ist sie so glücklicher als hier, wo man sie eingesperrt hat wie einen Vogel im Käfig.«
»Bei Elysias Tränen!«, fluchte Josua und warf die Hand in die Luft. »Törichtes Weib! Miriamel wollte nur die
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