Der Drachenbeinthron
Stimme kein Groll mehr. »Ich bin zornig und habe meine Worte schlecht gewählt.« Er stand auf und ging zu Grimmric undHaestan hinüber, die damit beschäftigt waren, die Pferde wieder zu beladen. Im Gehen bewegte er die geschmeidigen, muskulösen Schultern, als wollte er Knoten darin lösen. Simon und der Troll folgten ihm mit ihren Blicken.
»Er hat sich entschuldigt«, sagte Simon überrascht.
»Nicht alle Rimmersmänner sind wie dieser kalte Einskaldir«, bemerkte sein kleiner Freund. »Aber es sind auch – andererseits – nicht alle Trolle wie Binabik.«
Es war ein sehr langer Tagesritt, immer im Schutz der Bäume die Flanke des Gebirges hinauf. Als sie endlich anhielten, um ihre Abendmahlzeit einzunehmen, wusste Simon längst, wie zutreffend Haestans Warnungen gewesen waren: Obwohl sein Pferd langsam gegangen war und der Weg durch leichtes Gelände geführt hatte, brannten ihm Beine und Schritt, als hätte er den ganzen Tag auf irgendeinem schrecklichen Foltergerät gesessen. Haestan grinste und erläuterte ihm liebenswürdig, das Schlimmste komme erst noch, wenn er morgens steif von der Nacht wäre; dann bot er ihm so viel aus dem Weinschlauch an, wie er nur trinken mochte.
Als Simon sich an diesem Abend endlich zwischen den buckligen, bemoosten Wurzeln einer fast entlaubten Eiche zusammenrollte, fühlte er sich etwas besser, obwohl der Wein ihm vorgaukelte, er höre Stimmen im Wind, die seltsame Lieder sangen.
Doch als er am Morgen aufwachte, musste er feststellen, dass nicht nur alles, was Haestan prophezeit hatte, zehnfach eingetroffen war, sondern dass auch der Schneefall eingesetzt hatte, der über Weldhelmberge und Reisende gleichermaßen eine kalte, weiße Decke breitete. Zitternd im matten Yuven-Tageslicht konnte er noch immer die Stimmen im Wind vernehmen. Was sie sagten, war klar: Sie verspotteten den Sommer und machten sich lustig über Reisende, die da meinten, sie könnten ungestraft durch das neue Königreich des Winters ziehen.
Die ersten anderthalb Tage waren sie sehr schnell geritten und hatten die keuchenden Pferde der Herrin Vara bis ans Ende ihrer Kräfte getrieben, bis sie die obere Gabelung des Grünwate-Fluss erreicht und überquert hatten, etwa fünfundsiebzig Meilen südwestlich von Naglimund. Danach hatten sie die Geschwindigkeit verringert, damit die Pferde sich ausruhen konnten; immerhin war es möglich, dass sie noch einmal eilig davonreiten mussten.
Prinzessin Miriamel ritt gut im Herrensitz, wie es sich für die Kleidung, die sie trug, gehörte: Hosen und Wams, die ihr schon bei ihrer Flucht aus dem Hochhorst als Verkleidung gedient hatten. Ihr kurzgeschnittenes Haar war neuerlich schwarz gefärbt, obwohl unter der Reisekapuze, die sie ebenso vor der Kälte wie auch vor der Entdeckung durch Elias’ oder Josuas Männern schützen sollte, kaum etwas davon zu sehen war. Bruder Cadrach, der in seinem vom Reisestaub schmutzigen grauen Habit neben ihr ritt, wirkte unauffällig wie sie. Ohnehin waren bei dem abschreckenden Wetter und den gefährlichen Zeiten kaum andere Reisende auf der Flussuferstraße unterwegs. Die Prinzessin wurde langsam zuversichtlich, dass ihre Flucht gelungen war.
Seit der Mitte des Vortages waren sie auf der Deichstraße dem breiten, angeschwollenen Fluss gefolgt, in den Ohren das Schmettern ferner Trompeten, schriller, aufdringlicher Stimmen, die selbst das Stöhnen des regenschweren Windes übertönten. Zuerst hatte sie Angst gehabt, weil der Lärm die Vorstellung eines Suchtrupps ihres Onkels oder ihres Vaters weckte. Aber es stellte sich bald heraus, dass Cadrach und sie sich der Quelle des Lärmes näherten, anstatt vor ihr zu fliehen. Und an diesem Morgen hatten sie dann zum ersten Mal die Handschrift des Krieges gesehen: dünne Fäden aus schwarzem Rauch, in den ruhig gewordenen Himmel hineingemalt wie mit Tinte.
Miriamel starrte voller Grauen auf das Bild, das vor ihr lag. Was schon seit Stunden wie ein wirres Durcheinander von Farben und schwarzem Rauch am Horizont gestanden hatte, war nun klar erkennbar, als sie mit Cadrach oben auf der Bergkuppe hielt undhinunter auf den Inniscrich blickte. Es war ein Teppich des Todes, geknüpft aus Fleisch und Metall und zerfetzter Erde.
»Barmherzige Elysia!« Sie rang nach Luft und zügelte das scheuende Pferd. »Was ist hier geschehen? Ist das meines Vaters Werk?«
Der kleine, rundliche Mann kniff die Augen zusammen, und seine Lippen bewegten sich einen Moment lautlos zu Worten, die die
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