Der Drachenbeinthron
Prinzessin für ein stilles Gebet hielt. »Die meisten Toten sind Hernystiri, Herrin«, sagte er dann, »und die anderen halte ich dem Äußeren nach für Rimmersmänner.« Stirnrunzelnd betrachtete er die Szene unter ihnen. Jäh flog eine Gruppe aufgescheuchter Raben auf, alle gemeinsam wie ein Fliegenschwarm, um sich dann wieder niederzulassen. »Anscheinend hat die Schlacht sich nach Westen verlagert.«
Miriamel merkte, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie hob die Faust, um sie fortzuwischen. »Die Überlebenden werden wohl nach Hernysadharc zurückweichen, zum Taig. Wie konnte es nur dazu kommen? Sind denn alle wahnsinnig geworden?«
»Das waren sie schon, Herrin«, antwortete Cadrach mit einem sonderbar trüben Lächeln. »Nur dass die Zeiten es jetzt erst an den Tag bringen.«
»Können wir denn gar nichts tun?«, fragte Miriamel, stieg ab und blieb neben ihrem sanft schnaubenden Pferd stehen. Bis auf die Vögel war die Szene vor ihnen so unbewegt, als wäre sie in grauen und roten Stein gemeißelt.
»Was sollte das sein, Herrin?«, erkundigte sich Cadrach vom Sattel herunter. Er nahm einen Zug aus dem Weinschlauch.
»Das weiß ich nicht. Ihr seid doch ein Priester! Solltet Ihr nicht eine Mansa für ihre Seelen sprechen?«
»Für wessen Seelen, Prinzessin? Die meiner heidnischen Landsleute oder die der guten Ädoniter aus Rimmersgard, die von Norden kamen, um ihre Seelen dem Herrn zuzutreiben?« Die bitteren Worte schienen in der Luft zu hängen wie Rauch.
Miriamel drehte sich um und sah den kleinen Mann an. Von dem munteren Begleiter der letzten beiden Tage war nicht mehr viel übrig, der Ausdruck seiner Augen hatte sich völlig verändert. Er hatte ihr Geschichten erzählt und ihr seine Reit- und Trinkliederaus Hernystir vorgesungen und vor Heiterkeit geradezu gestrahlt. Jetzt sah er aus wie ein Mann, der den zweifelhaften Triumph kostet, dass eine seiner verhängnisvollen Weissagungen wahr geworden ist.
»Nicht alle Hernystiri sind Heiden!«, versetzte sie, über seine sonderbare Stimmung verärgert. »Ihr seid ja selbst ein ädonitischer Mönch!«
»Soll ich deshalb hinuntergehen und sie fragen, wer ein Heide ist und wer nicht?« Er schwenkte die rundliche Hand nach dem reglosen Schlachtfeld. »Nein, Herrin, das Einzige, was es hier noch zu tun gibt, erledigen die Aasfresser.« Er trieb mit den Fersen sein Pferd an und ritt eine kleine Strecke voraus.
Miriamel stand mit großen Augen da, die Wange an den Pferdehals gedrückt. »Einen frommen Mann kann doch ein solches Bild nicht ungerührt lassen!«, rief sie ihm nach, »und wenn er das rote Ungeheuer Pryrates selber wäre!« Bei der Erwähnung von König Elias’ Ratgeber duckte sich Cadrach, als habe ihm jemand einen Hieb in den Rücken versetzt. Er ritt noch ein paar Schritte weiter, hielt dann an und saß eine Zeitlang schweigend da.
»Kommt, Herrin«, erklärte er endlich, ohne sich umzublicken. »Wir müssen von dieser Höhe herunter, wo man uns von überall her sehen kann. Nicht alle Aasfresser haben Federn, und manche bewegen sich auf zwei Beinen.«
Die Prinzessin zuckte wortlos die Achseln und kletterte wieder in den Sattel. Ihre Augen waren trocken. Sie folgte dem Mönch den waldigen Abhang hinunter, der sich am blutgetränkten Wasser des Inniscrich entlangzog.
Als er in dieser Nacht, in ihrem Lager oben auf dem Berg über der flachen, weißen, baumlosen Weite des Drorshullsees, schlief, träumte Simon wieder von dem Rad.
Wieder fand er sich hilflos in seinen Lauf verfangen, herumgeworfen wie die Lumpenpuppe eines Kindes, hochgehoben vom gewaltigen Rand des Rades. Kalte Winde schüttelten ihn, undEisscherben flogen ihm ins Gesicht, als ihn das Rad in die vor Kälte starrende Schwärze hinaufschleuderte.
Auf dem Scheitel der gewichtigen Umdrehung angekommen, zerfetzt und blutend vom Wind, gewahrte er in der Finsternis ein Glänzen, einen leuchtenden, senkrechten Streifen, der von der undurchdringlichen Schwärze über ihm in die ebenso trüben Tiefen des Untergrundes hinabreichte. Es war ein weißer Baum, dessen breiter, mit dünnen Zweigen besetzter Stamm glühte, als sei er voller Sterne. Simon versuchte sich aus dem Griff des Rades zu befreien, um in das lockende Weiß hineinzuspringen, aber er schien gefesselt. Mit einer letzten gewaltigen Anstrengung riss er sich los und sprang.
Durch ein Weltall glühender Blätter stürzte er hinab, als flöge er durch die leuchtenden Sterne; laut rief er nach Usires, dem Gesegneten,
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