Der Drachenbeinthron
noch ein Vers steht – derselbe Vers, immer und immer wieder?«
»Meinst du ein Buch, das ich vorher schon gekannt hätte? Das vorher anders war? Dann müsste es Zauberei sein.«
»Eben«, versetzte Binabik, schon wieder besänftigt. »Damit hast du mein Problem. Es gibt Hunderte von Möglichkeiten, wie die Knöchel fallen können. Aber sechsmal hintereinander der gleiche Wurf – das muss etwas Übles bedeuten. Soviel ich auch studiert habe, immer noch liebe ich das Wort ›Zauberei‹ nicht; aber es muss eine Macht geben, die nach den Knöcheln greift, so wie ein starker Wind alle Fahnen in dieselbe Richtung wehen lässt … Simon? Hörst du mir überhaupt zu?«
Simon jedoch starrte wie gebannt in den Spiegel, aus dem ihm zu seiner Verblüffung ein fremdes Gesicht entgegenblickte. Der Fremde hatte längliche, starkknochige Züge, blau umschattete Augen und rotgoldenen Bartflaum auf Kinn, Wangen und Oberlippe. Simon staunte noch mehr, als er begriff, dass er – natürlich – doch nur sich selber sah, abgemagert und wettergegerbt von seinen Fahrten, mit dem ersten Anflug eines männlichen Bartes, der ihm das Kinn verdunkelte.
Was für eine Sorte Gesicht mochte es wohl sein, fragte er sich plötzlich. Es war noch immer nicht das eines Mannes, vom Leben gezeichnet und streng, aber er bildete sich ein, etwas von seinem Mondkalbtum abgestreift zu haben. Dennoch fand er den zerzausten Burschen mit dem ausgeprägten Kinn, der ihn da aus dem Spiegel anstarrte, eher enttäuschend.
Hat auch Miriamel mich so gesehen? Einen Bauernjungen – einen Ackerknecht?
Und während er noch an die Prinzessin dachte, war es ihm, als sehe er in dem Spiegel ihre Züge aufblitzen, fast als wüchsen sie aus den seinen hervor. Einen schwindelnden Augenblick langverschmolzen sie miteinander wie zwei wolkige Seelen in einem Körper; gleich darauf war es nur noch Miriamel, deren Gesicht er sah, oder besser gesagt, Malachias, denn ihr Haar war wieder schwarz und kurz geschnitten, und sie trug Knabenkleidung. Ein farbloser Himmel lag hinter ihr, über den schwarze Gewitterwolken zogen. Und da war noch jemand, unmittelbar an ihrer Seite, ein Mann mit rundem Gesicht und grauer Kapuze. Simon wusste, dass er ihn schon früher gesehen hatte, er war sich ganz sicher – aber wo?
»Simon!« Binabiks Stimme war wie ein Guss kaltes Teichwasser, gerade als der gesuchte Name zum Greifen nah an ihm vorüberschwebte. Eine Sekunde schwankte der Spiegel in Simons erschrockener Hand. Als er ihn wieder fest im Griff hatte, war nur noch sein eigenes Gesicht darin zu sehen.
»Wird dir übel?«, erkundigte sich der Troll, dem Simons schlaffer, verwirrter Gesichtsausdruck Sorgen machte.
»Nein … ich glaube jedenfalls nicht …«
»Dann, wenn du dich gewaschen hast, komm und hilf mir. Wir werden uns später über die Vorzeichen unterhalten, wenn deine Aufmerksamkeit weniger flüchtig ist.« Binabik stand auf und ließ die Knöchel in ihren Lederbeutel zurückfallen.
Binabik rutschte als Erster die Eisrinne hinunter, nachdem er Simon ermahnt hatte, die Zehen gestreckt und die Hände nah am Kopf zu halten. Die rasenden Sekunden, in denen der Junge durch den Tunnel glitt, waren wie ein Traum vom Abstürzen aus großer Höhe; und als er auf dem weichen Schnee vor dem Ausgang des Tunnels landete und ihm das strahlende, kalte Tageslicht in die Augen fuhr, war er zufrieden, einen Moment lang still sitzen zu bleiben und das Gefühl seines beschleunigten Herzschlages zu genießen.
Aber sofort warf ihn ein unerwarteter Stoß in den Rücken um, und eine erstickende Lawine von Muskeln und Pelz ging auf ihn nieder.
»Qantaqa!«, hörte er Binabik rufen. »Wenn du schon deine Freunde so behandelst, bin ich froh, nicht dein Feind zu sein!«
Simon schubste die Wölfin zur Seite, nur um sich dem erneuten Angriff einer rauhen Zunge auf sein Gesicht ausgesetzt zu sehen.Endlich rollte er sich mit Binabiks Hilfe unter Qantaqa vor. Aufgeregt jaulend sprang das Tier auf die Füße, umkreiste den Jungen und den Troll und lief dann in den verschneiten Wald hinein.
»Jetzt«, meinte Binabik und wischte sich den Schnee aus den schwarzen Haaren, »müssen wir herausfinden, wo die Sithi unsere Pferde untergestellt haben.«
»Nicht weit von hier, Qanuc.«
Simon fuhr herum und sah eine Reihe von Sithi lautlos unter den Bäumen heraustreten, angeführt von Jirikis Onkel in der grünen Jacke. »Und warum sucht ihr sie?«
Binabik lächelte. »Ganz gewiss nicht, um Euch zu
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