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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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jenen anderen unter derselben Sonne wandelten? Welche Bündnistreue könnten wir den Sterblichen schulden, die uns und alles andere so eifrig vernichtet haben … sogar sich selbst?« Keiner der Sterblichen außer Binabik hielt seinen kalten Blick aus. Jiriki hob einen langen Finger. »Und der, den ihr im Flüsterton den Sturmkönig nennt … er, der einst Ineluki hieß …« Er lächelte bitter, als die Gefährten sich unruhig regten und ein Schauer sie überlief. »Ja, sein bloßer Name macht euch Angst! Einst war er von uns allen der Beste – herrlich anzusehen, weise über alles Verständnis der Sterblichen hinaus, hell strahlend wie eine Flamme! Wenn er jetzt ein Wesen finsteren Grauens ist, kalt und voller Hass, wer trägt dieSchuld daran? Wenn er heute, körperlos und rachedürstend, Pläne schmiedet, die Menschheit von seinem Land zu fegen, wie man Staub von einer Buchseite wischt – warum sollten wir nicht jubeln? Nicht Ineluki war es, der uns in die Verbannung trieb, sodass wir uns unter Aldheortes dunklen Bäumen verbergen müssen wie das Wild, stets wachsam, damit man uns nicht entdeckt. Im Sonnenlicht schritten wir durch Osten Ard, bevor die Menschen kamen, und das Werk unserer Hände war köstlich unter den Sternen. Was haben die Sterblichen uns je gebracht außer leid?«
    Niemand konnte ihm antworten, aber in dem Schweigen, das Jirikis Worten folgte, stieg ein klagender, leiser Klang empor. Voll unbekannter Worte schwebte er im Dunkel, eine Melodie von geisterhafter Schönheit.
    Als er seinen Gesang beendet hatte, sah An’nai seinen stillen Prinzen und seine Sithikameraden an und blickte dann auf die anderen, die jenseits der tanzenden Flammen saßen.
    »Es ist eines von unseren Liedern, das einst auch die Sterblichen sangen«, murmelte er. » Die Menschen des Westens liebten es vor langer Zeit und gaben ihm Worte in ihrer Sprache. Ich will … ich will versuchen, es in eure zu übersetzen.«
    Er sah zum Himmel auf und dachte nach. Der Wind hatte sich gelegt, und als das Schneegestöber aufhörte, wurden die Sterne sichtbar und leuchteten kalt und fern.
    Endlich begann An’nai zu singen, und die Schnalzlaute und fließenden Vokale der Sithisprache schwangen gedämpft in seinen Worten mit.
    Moos wächst auf den Steinen von Sení Ojhisá.
    Noch warten die Schatten, als lauschten sie still.
    In Da’ai Chikiza zerfallen die Mauern.
    Die Schatten, sie wispern, lang, lang ist es her.
    So hoch weht das Gras über Enkie-Shaosaye.
    Es wandern die Schatten weit über das Grün.
    Auf Nenais’us Grab liegt ein Mantel aus Blumen.
    Der dunkle Bach schweigt. Niemand trauert dort mehr.
    Wohin sind sie alle?
    Die Wälder, sie schweigen.
    Wohin sind sie alle?
    Das Lied, es verklang.
    Nie tanzen sie wieder
    den Dämmerungsreigen,
    wenn das Sternenmeer leuchtet,
    das Tageslicht sank …
    Als An’nais Stimme sich hob und die klagenden Worte liebkoste, erfasste Simon eine nie gekannte Sehnsucht – Heimweh nach einer Heimat, die er niemals gekannt, ein Gefühl des Verlustes für etwas, das ihm nie gehört hatte. Niemand sprach, während An’nai sang. Niemand hätte ein Wort herausgebracht.
    Das Meer rauscht dahin über Jhiná-T’seneí.
    Die Schatten, sie schlafen, in Grotten versteckt.
    Blaues Eis bedeckt Tumet’ai, in Kälte geschlagen,
    das Muster der Zeit ist befleckt und gähnt leer.
    Wohin sind sie alle?
    Die Wälder, sie schweigen.
    Wohin sind sie alle?
    Das Lied, es verklang.
    Nie tanzen sie wieder
    den Dämmerungsreigen,
    wenn das Sternenmeer leuchtet,
    das Tageslicht sank …
    An’nai verstummte. Das Feuer war ein einsamer heller Fleck in einer Wüste von Schatten.

    Das grüne Zelt stand ganz allein in der feuchten leere der Ebene vor den Mauern von Naglimund. Seine Wände hoben und senkten sichund wogten im Wind, als ob es als Einziges von allen Dingen, die sich vielleicht ungesehen auf dieser riesigen offenen Fläche bewegten, lebte und atmete.
    Deornoth biss die Zähne zusammen, um einen abergläubischen Schauder zu unterdrücken, obwohl der feuchte, messerscharfe Wind sie klappern lassen wollte. Er sah auf Josua, der ein kleines Stück vor ihm herritt.
    Schaut ihn an, dachte er. Als ob er seinen Bruder schon vor sich sähe – als könnten seine Augen mitten durch die grüne Seide und das schwarze Drachenwappen sehen, tief in Elias’ Herz.
    Als er sich nach dem dritten und letzten Mitglied ihrer Abordnung umsah, fühlte Deornoth sein ohnehin schweres Herz noch tiefer sinken. Der junge Soldat, auf

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