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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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langsam voran, aber keiner, Simon am wenigsten, hätte es anders gewollt.
    Doch nicht alle lehren, die der Berg ihm erteilte, waren unangenehm. Obwohl die Luft so dünn und ätzend kalt war, dass er manchmal das Gefühl hatte, der nächste Atemzug könne ihn zum Eisblock erstarren lassen, erzeugte gerade diese Eiseskälte in ihm eine sonderbare Begeisterung, ein Gefühl von Offenheit undKörperlosigkeit, so als wehe ein aufrüttelnder Wind mitten durch ihn hindurch.
    Das eisige Antlitz des Berges selbst war von schmerzhafter Schönheit.
    Simon hatte sich im Traum nicht vorgestellt, dass Eis eine Farbe haben könnte; die zahme Sorte, die er kannte, die zur Ädonszeit die Dächer des Hochhorstes mit Girlanden verzierte und im Jonever die Brunnen bedeckte, war diamantklar oder von milchigem Weiß. Im Gegensatz dazu erschien ihm der Eispanzer des Urmsheim, vom Wind und der scheinbar fernen Sonne verformt, verzerrt, uneben, wie ein Traumbild voller Farben und fremdartiger Gebilde. Große Eistürme, von seegrünen und violetten Adern durchzogen, ragten weit über die Köpfe der mühsam Kletternden hinaus. An anderen Stellen waren die Eisklippen abgebrochen und in Kristallbrocken zerfallen, mit edelsteinartigen, rauhen Kanten. In stürmisches Blau geätzt, lagen sie in mosaikhafter Verwirrung durcheinander da wie die zurückgelassenen Steinblöcke eines Riesenbaumeisters. Ein Stück weiter standen die schwarzen Gebeine zweier erfrorener, längst abgestorbener Bäume wie im Stich gelassene Posten am Eingang einer in weißen Nebel gehüllten Spalte. Die Sonne hatte die Eiswand, die zwischen ihnen entstanden war, pergamentdünn geschmolzen, sodass die mumifizierten Bäume Torpfosten zum Himmel zu sein schienen. Das Eis zwischen ihnen schimmerte wie ein vergänglicher Fächer, der das Tageslicht in einen glühenden Regenbogen aus rubin- und nektarinenrotem Licht auflöste, goldene, lavendelblaue und blassrosige Strudel, von denen Simon überzeugt war, dass neben ihnen selbst die berühmten Fenster der Sancellanischen Ädonitis so stumpf wie Teichwasser und Kerzenwachs aussehen müssten.
    Doch noch während seine strahlende Oberfläche ihre Augen betörte, schmiedete das kalte Herz des Berges finstere Pläne gegen die ungebetenen Gäste. Am späten Nachmittag des ersten Tages, während Simon und seine Gefährten sich noch an den ungewohnt bedächtigen Schritt zu gewöhnen versuchten, den ihnen Binabiks Schuhdorne aufzwangen – die Sithi, die solche Hilfsmittel verachteten, kletterten trotzdem fast genauso langsam und vorsichtig wiedie anderen –, verdunkelte sich der Himmel so jäh und vollständig wie ein Löschblatt, über das man Tinte schüttet.
    »Hinlegen!«, schrie Binabik gellend, während Simon und die beiden Erkynländer noch neugierig auf die Stelle starrten, an der eben noch die Sonne am Himmel gestanden hatte. Hinter Haestan und Grimmric hatte Sludig sich bereits in den harten Schnee geworfen. »Flach auf den Boden!«, brüllte der Troll. Haestan zerrte Simon nach unten.
    Noch während er sich fragte, ob Binabik weiter vorn auf dem Pfad etwas Gefährliches gesehen hätte – und wie es denn um die beiden Sithi stand, die schon hinter der Biegung verschwunden waren, die der Pfad um einen Teil der südöstlichen Flanke des Urmsheim machte –, hörte Simon, wie sich das Geräusch des Windes, seit Stunden ein leises, stetiges Pfeifen, zum Kreischen steigerte. Er spürte ein Zupfen, dann ein heftiges Zerren und grub durch den Pulverschnee die Finger in das darunterliegende Packeis. Gleich darauf krachte ein Donnerschlag. Das erste Dröhnen hallte noch unten im Tal wider, als ihn bereits ein zweiter Schlag durchschüttelte, wie es Qantaqa mit einer gefangenen Ratte tat. Wimmernd krallte er sich am Boden fest, während die Knochenfinger des Windes ihn zerkratzten und über ihm immer wieder der Donner rollte, als sei der Berg, an den sie sich klammerten, der Amboss eines ungeheuren und entsetzlichen Schmiedes.
    Das Gewitter hörte so übergangslos auf, wie es eingesetzt hatte. Noch lange Minuten, nachdem das Schreien des Windes sich gelegt hatte, verharrte Simon dort, wo er lag, die Stirn gegen den eisigen Boden gepresst. Als er sich endlich aufsetzte, summte es ihm in den Ohren. Aus den Tintenklecksen der Wolken tauchte die weiße Sonne auf. Hinter ihm saß Haestan, verstört wie ein Kind, mit blutender Nase, den Bart voller Schnee.
    »Bei Ädon!«, fluchte er. »Beim leidenden, geschundenen, sorgenden Ädon und Gott

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