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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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dem Allerhöchsten!« Er wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab und starrte töricht auf den blutigen Streifen auf seinem Pelzhandschuh. »Was …?«
    »Ein Glück, dass wir auf einer breiten Stelle des Pfades standen«, sagte Binabik und richtete sich auf. Obwohl auch er voller Schneewar, sah er beinahe fröhlich aus. »Die Gewitter kommen hier schnell.«
    »Schnell …«, murmelte Simon und blickte nach unten. Er hatte den Knöchel seines rechten Stiefels mit den Dornen durchbohrt, die an den linken geschnallt waren, und es stach so, dass es bestimmt blutete.
    Einen Augenblick später erschien Jirikis schlanke Gestalt an der Wegbiegung.
    »Habt ihr jemanden verloren?«, schrie er. Als Binabik zurückrief, alle seien in Sicherheit, grüßte der Sitha spöttisch zu ihm herüber und verschwand wieder.
    »Ich sehe keinen Schnee an ihm«, bemerkte Sludig bitter.
    »Berggewitter sind sehr schnell«, erwiderte der Troll. »Aber Sithi auch.«
    Die Gruppe verbrachte die erste Nacht an der hinteren Wand einer flachen Eishöhle in der Ostseite des Berges. Die Außenkante des schmalen Pfades war nur fünf oder sechs Ellen von ihnen entfernt, und dahinter wartete der schwarze Abgrund. Simon saß da und schlotterte in der alles durchdringenden Kälte, von Jirikis und An’nais leisem Singen zwar getröstet, aber nicht gewärmt, und ihm fiel etwas ein, das einst, mitten in einem schläfrigen Nachmittag, Doktor Morgenes zu ihm gesagt hatte, als Simon sich über das Leben im überfüllten Dienstbotenflügel beklagte.
    »Nimm dir nie einen Ort als Heimat«, hatte der alte Mann erklärt, in der Frühlingswärme zu faul, um mehr als einen Finger zu heben. »Such dir eine Heimat in deinem eigenen Kopf. Das, was du dazu brauchst – Erinnerungen, Freunde, denen du vertrauen kannst, Liebe zum Lernen und anderes mehr –, wirst du schon finden.« Morgenes hatte gegrinst. »Auf diese Art wird deine Heimat dich begleiten, wohin es dich auch verschlägt. Nie brauchst du darauf zu verzichten – solange du nicht den Kopf verlierst, natürlich …«
    Simon wusste immer noch nicht so ganz, was der Doktor gemeint hatte; eigentlich war er sich sicher, dass er nichts sehnlicher wünschte, als wieder eine Heimat zu haben. Schon nach einer Woche war ihm Vater Strangyeards kahles Zimmer in Naglimund fast sovorgekommen. Dennoch war etwas Romantisches an der Vorstellung, auf freier Straße zu leben und seine Heimat dort zu finden, wo man gerade Rast machte, wie ein Hyrka-Pferdehändler. Doch war er auch zu anderem bereit. Langsam hatte er den Eindruck, schon seit Jahren unterwegs zu sein – wie lange war es eigentlich in Wirklichkeit?
    Als er anhand der Mondwechsel sorgfältig zurückgerechnet hatte – dort, wo er sich nicht mehr recht erinnern konnte, half ihm Binabik –, war er völlig verdutzt, als er feststellte, dass es … weniger als zwei Monate waren! Erstaunlich, aber wahr: Der Troll bestätigte seine Vermutung, dass drei Yuven-Wochen vergangen waren, und Simon wusste genau, dass seine Reise in jener unheilvollen Steinigungsnacht begonnen hatte – in den letzten Stunden des April. Wie sich in diesen sieben Wochen doch die Welt verändert hatte! Und, dachte er dumpf, als er in den Schlaf taumelte, überwiegend zum Schlechteren.
    Am späten Morgen kletterten die Männer gerade über eine massive Eisscholle, die von der Schulter des Berges abgeglitten war und jetzt wie ein riesiges weggeworfenes Paket quer über ihrem Pfad lag, als Urmsheim zum zweiten Mal zuschlug. Mit einem grässlichen, mahlenden Geräusch verfärbte sich ein langer Keil der Eisscholle von Blaugrau zu Weiß und brach ab. Er rutschte Grimmric unter den Füßen weg und stürzte zerbröckelnd den Berg hinunter. Dem Erkynländer blieb nur noch Zeit zu einem kurzen, überraschten Aufschrei. Eine Sekunde später torkelte er in die Spalte, die der Keil hinterlassen hatte, und war verschwunden. Noch ehe Simon einen Gedanken fassen konnte, merkte er, wie Grimmrics Sturz ihn nach vorn riss. Er stolperte und streckte verzweifelt die Hand aus, um sich an der Eiswand festzuhalten, aber die schwarze Spalte kam immer näher. In hilflosem Entsetzen sah er durch den Riss des Pfades einen dünnen Streifen leere Luft und darunter die unbestimmten Umrisse der eine halbe Meile tiefer liegenden Klippen. Er schrie und merkte, dass er weiterrutschte. Vergeblich krallten sich seine Finger in den eisglatten Pfad.
    Binabik war der Erste am Seil. Weil er schnell und erfahren war, gelang es ihm,

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