Der Drachenbeinthron
sich sofort nach vorn zu werfen, als er das Eis brechenhörte; Gesicht nach unten, lag er flach auf der Erde, klammerte sich mit der einen behandschuhten Hand am Eis fest und trieb mit der anderen Pickel und Dornen so tief hinein, wie es nur irgend ging. Dann packte Haestans breite Hand Simon am Gürtel, aber selbst das Gewicht des bärtigen Wachsoldaten konnte ihr unausweichliches Weiterrutschen nicht aufhalten. Grimmrics verborgene Last zog sie nach unten. Unter dem Rand der Spalte schrie er kläglich und schwang hin und her, am Seil über dem wirbelndem Nichts hängend. Ganz hinten stemmte sich Sludig gegen den Boden und brachte Simons und Haestans Vorwärtsbewegungen für einen Augenblick zum Stehen. Voller Angst schrie er nach den Sithi.
An’nai und Prinz Jiriki kamen bereits den Bergpfad herunter. Sie sprangen leichtfüßig wie Schneehasen über die pudrige Oberfläche. Hastig schlugen sie die eigenen Pickel tief in das Eis und befestigten mit raschen Knoten das Ende von Binabiks Seil daran. Der Troll, dadurch befreit, kletterte mit den beiden Sithi um den Rand der Spalte herum und nach hinten zu Sludig, um ihm zu helfen.
Simon spürte, wie der Zug an seinem Gürtel stärker wurde. Langsam wich die Spalte vor ihm zurück. Er glitt rückwärts. Er würde nicht sterben! Wenigstens nicht in diesem Augenblick. Während er wieder Halt zu finden versuchte, bückte er sich nach einem heruntergefallenen Fausthandschuh, und sein Kopf hämmerte.
Nachdem jetzt die gesamte Schar an den Seilen zog, gelang es endlich, Grimmric – inzwischen bewusstlos, das Gesicht in der Kapuze grau – durch die Lücke im Eis nach oben zu hieven und in Sicherheit zu schleifen. Auch als er wieder wach war, dauerte es noch Minuten, bis Grimmric seine Gefährten wiedererkannte, und er schlotterte wie in tödlichem Fieber. Sludig und Haestan bauten aus zwei Pelzmänteln eine Bahre, um ihn zu tragen, bis man anhalten und lagern konnte.
Als sie eine tiefe Höhlung fanden, die so weit in den Berg hineinreichte, dass hinten das Gestein zutage trat, hatte die Sonne die Mitte des Himmels noch kaum überschritten, aber es blieb ihnen nichts übrig, als schon jetzt ihr Lager aufzuschlagen. Mit Brennholz, das sie am Fuß des Urmsheim zusammengesucht und für Anlässe wie diesen mitgeschleppt hatten, zündeten sie ein kleines, kaumkniehohes Feuer an. Bibbernd und mit klappernden Zähnen lag Grimmric daneben und wartete auf den Trolltrank, den Binabik mühevoll zubereitete, indem er Kräuter und Pulver aus seinem Rucksack mit geschmolzenem Schnee verrührte. Niemand missgönnte dem Soldaten die kostbare Hitze.
Im Laufe des Nachmittages stieg der schmale Sonnensplitter, der wie ein Pfeil in die Kluft eingedrungen war, an den blauen Wänden hinauf und verschwand dann, und eine noch stärkere und qualvollere Kälte setzte ein. Simons Muskeln bebten wie Lautensaiten, und trotz der Pelzkapuze schmerzten ihn die Ohren. Er merkte, wie er – genauso kopfüber und hilflos, wie er auf die nackte Leere der Spalte zugerutscht war – in einen Wachtraum hineinglitt. Aber statt der öden Kälte, die er erwartet hatte, empfing ihn sein Traum mit warmen, duftenden Armen und hieß ihn willkommen.
Es war wieder Sommer – wie lange mochte das her sein? Doch nein, die Jahreszeiten hatten ihren Kreis endlich wieder vollendet, und die heiße, erwartungsfrohe Luft war voller Bienengesumm. Die Frühlingsblumen hingen jetzt prall und überreif am Stengel, knusprig braun an den Rändern wie Judiths Hammelpasteten, die in den Öfen der Burg brutzelten. In den Feldern unterhalb der Hochhorstmauern färbte sich das Gras langsam gelb, um die alchimistische Verwandlung einzuleiten, die bis zum Herbst dauern würde – bis es dann in goldenen, duftenden Garben aufgestapelt dalag und das Land aussah, als wäre es mit kleinen Häuschen übersät worden.
Simon konnte die Hirten schläfrig singen hören, während sie ihre blökenden Schützlinge über die Wiesen trieben; es klang wie ein Echo der Bienen. Sommer! Bald, das wusste er, würden die Feste beginnen … das Sankt-Sutrins-Fest, Hlafmansa … aber zuerst jenes, das er am liebsten mochte: Mittsommerabend …
Mittsommerabend, wenn alles anders war als sonst und man sich verkleidete, wenn maskierte Freunde und kostümierte Feinde einander unerkannt in der atemlosen Dunkelheit begegneten, wenn die ganze schlaflose Nacht hindurch Musik spielte, der Heckengarten mit Girlanden aus Silberbändern geschmückt war und lachende,
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