Der Drachenbeinthron
Hauptsächlich sah man die Heimatlosen, die in den vergangenen Wintermonaten nach Erchester geströmt waren, aus ihren Wohnorten vertrieben von ausgetrockneten Bächen und versiegenden Brunnen. Sie standen oder saßen im Schatten von Steinmauern und Gebäuden, teilnahmslose Häufchen Elend mit langsamen, ziellosen Bewegungen. Die Wachen drängten sich an ihnen vorbei oder stiegen über sie hinweg wie über Straßenköter.
Die beiden Jungen bogen von der Mittelgasse nach rechts in den Tavernenweg ein, die größte der Fahrstraßen, die die Mittelgasse kreuzten. Hier gab es mehr Leben, obwohl auch jetzt die meisten Menschen Soldaten waren. Die Hitze hatte sie größtenteils in dieHäuser getrieben; sie lehnten sich, Humpen in der Hand, aus den niedrigen Fenstern und betrachteten Simon und Jeremias und das halbe Dutzend Vorübergehender mit bierseliger Gleichgültigkeit.
Ein Bauernmädchen im selbstgesponnenen Rock, wahrscheinlich die Tochter irgendeines Stallknechts – dem Krug nach zu schließen, den sie auf der Schulter balancierte –, kam eilig die Straße herauf. Ein paar Soldaten pfiffen und riefen ihr nach, aber das Mädchen blickte nicht auf, sondern trottete zielstrebig weiter, das Kinn auf der Brust. Ihre Hast, verbunden mit dem schweren Krug, machte ihre Schritte kurz. Wohlgefällig beobachtete Simon ihren geschmeidigen Hüftschwung und drehte sich sogar einmal um sich selbst, um sie im Auge zu behalten, bis sie plötzlich in ein kleines Gässchen einschwenkte und verschwand.
»Simon, jetzt komm!«, rief Jeremias. »Da drüben ist es!«
In der Mitte des Gebäudekomplexes stand, aus dem Tavernenweg aufragend wie ein Felsblock auf ausgefahrener Straße, der Dom des heiligen Sutrin. Im Stein seines gewaltigen Antlitzes spiegelte sich stumpf die geduldige Sonne. Die hohen Bögen und gewölbten Strebepfeiler warfen schmale Schatten über die Nester von Wasserspeiern, deren muntere Grimassengesichter vergnügt gackernd und scherzend über die Schultern humorloser Heiliger hinabspähten. Von der Fahnenstange über den hohen Doppeltüren hingen drei schlaffe Banner: Elias’ grüner Drache, Säule und Baum der Kirche, und ganz unten der goldene Kronreif im weißen Feld der Stadt Erchester. Zwei Stadtwachen lehnten an den geöffneten Türen, und ihre Hellebarden standen mit den Spitzen nach unten im breiten steinernen Türrahmen.
»Also los«, bemerkte Simon grimmig und stieg, Jeremias dicht auf den Fersen, die zwei Dutzend Marmorstufen hinauf. Oben hob eine der Wachen nachlässig die Hellebarde und versperrte den Eingang. Der Mann hatte die Kapuze seines Kettenhemdes zurückgeschlagen, sodass sie ihm um die Schultern hing wie ein Schleier.
»Was wollt ihr hier?«, fragte er mit zusammengekniffenen Augen.
»Eine Botschaft für Breyugar.« Simon stellte beschämt fest, dass seine Stimme brach. »Für Graf Breyugar, von Doktor Morgenes vom Hochhorst.« Ein wenig trotzig streckte er das zusammengerolltePergament vor. Der Wachmann, der gesprochen hatte, nahm es und warf einen flüchtigen Blick auf das Siegel. Der andere starrte eindringlich nach oben zum gemeißelten Türsturz, als hoffe er, dort seine Dienstbefreiung für den Tag geschrieben zu finden.
Die erste Wache reichte Simon achselzuckend das Pergament zurück. »Hier durch und dann links. Treibt euch aber nicht herum.«
Empört richtete sich Simon zu voller Höhe auf. Wenn er erst Wachmann war, würde er sich um ein Vielfaches würdiger benehmen als diese gelangweilten, unrasierten Trottel. Wussten sie nicht, welche Ehre es war, das königliche Grün zu tragen? Er trat mit Jeremias an ihnen vorbei und ins kühle Innere von Sankt Sutrin.
Nichts regte sich im Vorraum, nicht einmal die Luft, aber Simon konnte sehen, wie das Licht auf den Körpern einiger Männer spielte, die sich hinter der Türöffnung auf der anderen Seite bewegten. Anstatt sofort nach der Tür links zu gehen, blickte er sich um, ob die Wächter ihn beobachteten – was sie natürlich nicht taten –, und marschierte dann weiter, um in das große Hauptschiff des Domes hineinzusehen.
»Simon!« , zischte Jeremias unruhig. »Was tust du da! Da drüben, haben sie gesagt.« Er deutete auf die Tür ganz links. Aber Simon achtete nicht auf seinen Begleiter und steckte den Kopf durch die Tür. Nervös vor sich hinmurmelnd, kam Jeremias hinterher.
Es ist wie auf einem von diesen frommen Bildern, dachte Simon, ganz hinten sieht man Usires und den Baum, und ganz vorn die Gesichter der
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