Der Drachenflüsterer - Der Schwur der Geächteten
wühlte sich aus den Laken, kam flehend auf ihre Tochter zu.
»Bleib liegen«, zischte Nica und hob die spitze Nadel, die sie mit der Faust umklammerte. Ihre Lippen bebten, doch
der Arm war ruhig. »Bleib liegen, oder ich ramm sie dir ins Auge. So tief ich nur kann.«
Ben hielt die Arme verschränkt und hoffte, sie würde nicht zustoßen. Er wollte nicht zusehen, wie sie ihre eigene Mutter erstach, wusste aber nicht, ob er ihr in den Arm fallen sollte.
»Das würdest du nicht tun«, sagte die Mutter, verharrte aber in der Bewegung. Sie zitterte, ihre Augen flackerten unsicher.
»Du solltest es nicht ausprobieren.« Nica machte einen kleinen Schritt auf ihre Mutter zu. »Ich sagte, leg dich wieder hin!«
Wimmernd kroch sie tatsächlich zu ihrem Kissen zurück. Nun lag nackte Angst in ihrem Blick. »Ich hab dir doch gesagt, ich war es nicht.«
»Aber du hast zugelassen, dass Vater mich an den Pfahl bindet! Warum?«
»Er war mein Ehemann...«
»Und ich deine Tochter! Du hättest statt meiner sterben sollen!«
»Aber das ging doch nicht. Das ging nicht.« Sie schluchzte, und ihre Stimme erstarb beinahe. »Es musste doch eine Jungfrau sein.«
»Eine Jungfrau?« Nica lachte bitter auf. »Aber ich bin keine Jungfrau mehr!«
Nun sackte Frau Yirkhenbarg vollkommen in sich zusammen. Tränen rannen ihr über die Wange, und sie schluchzte verzweifelt: »Das ist gelogen. Das sagst du nur, um mir wehzutun.«
Stumm schüttelte Nica den Kopf.
Ben verspürte einen Stich, den er nicht hätte spüren dürfen, ihre fehlende Jungfräulichkeit ging ihn nichts an, sie war Yankos Mädchen. Doch der Satz hatte ihn nicht überrascht, er hatte in der Ruine doch genug eindeutige Geräusche gehört.
»Das ist nicht wahr. Nicht mit ihm, nicht mit einem wie ihm.« Nicas Mutter warf Ben einen hasserfüllten Blick zu.
»Das geht dich nichts an«, presste Nica hervor. »Du bist nicht mehr meine Mutter, eine Mutter opfert ihr Kind nicht! Als Waise geht es mir besser.«
»Aber schau dich doch an, wie du aussiehst. Wie du herumläufst, und das mitten in der Nacht.« Sie deutete auf Nicas weißes Kleid, das in den letzten Wochen im Wald zahlreiche Flecken abbekommen hatte und an mehreren Stellen eingerissen und nur notdürftig genäht war. »Komm einfach heim, und alles wird gut.«
»Gut?« Wieder schüttelte Nica entschlossen den Kopf. »Es gibt nur einen Weg, wie alles wieder gut wird: Du sagst mir, wer Vater hierhergeschickt hat. Wer wusste von dem Drachen in der Mine, wer hat ihm dieses Opfer befohlen?«
»Ach, Kind...«
»Wer?«, zischte Nica und hob erneut die Nadel. Ihr Arm bebte nun, doch auf ihrem Gesicht zeigte sich keine andere Regung als Zorn.
»Nica«, sagte Ben leise, doch niemand beachtete ihn.
»Ach, Kind, du versündigst dich.«
»Wer war es?«
»Du darfst dich nicht gegen Hellwahs Gebote stellen.«
»Wenn er mich tot sehen will, dann kann er mir gestohlen bleiben!«
»Kind...«
»Wer? In Samoths verfluchtem Namen, wer war es?« Die erhobene Nadel zitterte, Nica machte einen weiteren Schritt auf ihre Mutter zu. Sie stand nun direkt neben dem Bett.
Ben starrte Nicas Mutter an, die sich verzweifelt in die Decke krallte. Bei der Erwähnung von Samoths Namen war sie
zusammengezuckt, ihr Nachthemd war unzüchtig verrutscht und gab ihre knochige Schulter frei, doch das kümmerte sie nicht. Sie schluchzte vor sich hin und schloss die Augen, als könne sie den Anblick ihrer Tochter nicht mehr ertragen. In ihren Zügen zeigten sich mehr Schuldgefühle und Scham als Angst. Leise sagte sie: »Ich weiß es nicht.«
»Wer?«, fragte Nica.
Eine kurze Weile sagte keiner ein Wort, dann schlug die Mutter seufzend die Augen auf und atmete tief durch. Sie schien aufgegeben zu haben, fast wirkten ihre Gesichtszüge jetzt friedlich. »Kurz vor deiner Abreise hat dein Vater einen Boten empfangen. Er zeigte mir einen Brief, der das Siegel des Hohen Norkham persönlich trug, und sagte, wir hätten eine große Aufgabe zu erfüllen. Er war sichtlich von heiligem Eifer erfüllt, das wahre Wort hatte ihn geküsst, und doch lag ein Schatten auf seinem Gesicht. Er sagte, wir müssten stark sein, dann würde alles gut werden. Ich dachte, er meinte damit, dass wir unseren Glauben verleugnen müssten oder irgendwelche Entbehrungen auf uns nehmen, aber nicht das. Ich wusste nicht, was dir drohte. Noch vor meinen Augen hat er den Brief verbrannt, er sollte keinem Häscher des Ordens in die Finger fallen. Ich wusste es nicht. Es tut mir
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