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Der Drachenflüsterer - Der Schwur der Geächteten

Titel: Der Drachenflüsterer - Der Schwur der Geächteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Koch
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sich nach dem nächsten Tanz um Mitternacht an einer anderen vergangen, an einem hübschen Mädchen mit braunen Locken und großen Augen, die gern mit den Jungen schäkerte. Man hat sie am nächsten Morgen an der Friedhofsmauer gefunden,
wimmernd in sich zusammengesunken und mit zerrissenem Kleid, ein tiefer Schnitt quer über die linke Wange, überall grün und blau geprügelt. Der Junge war verschwunden. Die Pilze haben meine Freundin mit ihrer Vision von seiner verborgenen wahren Fratze gerettet.«
    Ben und Yanko starrten tief beeindruckt abwechselnd Nica und die Pilze an. Dann fragte Yanko: »Und du? Was hast du gesehen?«
    »Ich habe gar nichts gesehen. Ich habe etwas über mich erkannt.«
    »Und was?«
    Nica lächelte, drehte sich wieder um und pflückte vorsichtig einen Pilz. Sie brach den Stiel direkt oberhalb des Mooses ab, so dass die Wurzeln im felsigen Boden verblieben und aus ihnen ein neuer Pilz nachwachsen konnte. »Wenn du es wirklich wissen willst, nimm dir einen. Vielleicht kannst du es dann ja auch erkennen.«
    »Aber...«
    »Von mir erfährst du es nicht.«
    »Klingt doch lustig«, sagte Ben und stieß Yanko mit der Schulter an.
    Vorsichtig schnitten sie sich auch jeweils einen Pilz ab.
    Dann setzten sie sich zu dritt mit untergeschlagenen Beinen in einen Kreis. Nica brach ein kleines Stück von ihrer Kappe ab und schob es sich mit Zeigefinger und Daumen in den Mund. Genüsslich leckte sie sich beide Finger ab und kaute ganz langsam mit geschlossenen Augen. Anschließend bröckelte sie sich ein zweites Stück ab und schob es hinterher.
    Ben und Yanko taten es ihr nach.
    Im Mund zerfiel der Pilz fast von selbst, nur die Oberhaut der Kappe hielt zusammen und schmiegte sich klebrig an die
Zunge. Ben kratzte sie mit den Zähnen ab und kaute sie zu einem Brei. Es schmeckte bittersüß und nussig zugleich und ein wenig herb nach kühler Erde. Ein leichtes Kribbeln breitete sich rasch in Bens Mundraum aus, ein Gefühl von Taubheit. Grinsend schob er sich ein zweites Stück zwischen die Lippen. Das Kribbeln wurde ein wenig stärker, doch sonst geschah nichts. Er sah, hörte, roch und spürte nichts anderes als zuvor, auch überfielen ihn keine besonderen Eingebungen.
    »Und jetzt?«, fragte er nach einer Weile. »Was soll jetzt passieren?«
    »Hab Geduld«, sagte Nica. »Du musst der Wahrheit schon ein wenig Zeit lassen, zu dir zu gelangen. Aber sie wird dich erleuchten.«
    »Jetzt redest du wie ein Priester«, brummte Yanko.
    »Der Pilz ist ja auch für Priester.«
    »Und das bedeutet, dass man...?«
    »Seid einfach still und konzentriert euch auf seinen Geschmack und das Kribbeln. Er wird gleich anfangen.«
    Ben ließ die Hände sinken und versuchte vollkommen zu entspannen. Er lauschte auf die singenden Vögel, das Rascheln der Blätter und den rauschenden Bach und betrachtete den halben Pilz in seinen Händen. So also erkannten die Priester die Wahrheit. Habemaas, der Hellwahpriester aus Trollfurt, hatte davon nie etwas gesagt, aber so ein Geheimnis behielt man wohl auch besser für sich. Stets hatte er behauptet, die Wahrheit lasse sich in alten Legenden und dem Strahlen der Sonne finden, und wer ihr Licht deuten konnte wie auch den Flug der Vögel, der würde Hellwahs Willen erfahren. Aber Ben wusste auch, dass sich zahlreiche Zauber in einfachen Dingen oder Wesen verbargen, in toten Ratten und in Blut. Warum also nicht auch in einem einfachen Pilz?
    Er starrte ihn an, strich mit dem Zeigefinger der Rechten sorgsam über ihn hinweg. Immer deutlicher konnte er die einzelnen Fasern im schmutzig weißen Stiel erkennen. So wunderbar geformt war dieser Pilz – es musste wahrlich ein besonderer sein. Er schob seine Zunge im Mund hin und her, um dem Geschmack nachzuforschen, dem pelzigen Kribbeln. Genüsslich steckte er sich einen weiteren Brocken zwischen die Lippen.
    Langsam wanderte das Kribbeln seinen Kopf hinauf, als würden zahllose Fliegen durch seine Haare wimmeln. Es kitzelte. Die Lippen schwollen an und schienen plötzlich vollkommen ausgetrocknet zu sein. Immer wieder fuhr er sich mit der ebenfalls dicken Zunge darüber, und zugleich fühlte er sich herrlich leicht, nahm alles viel intensiver wahr, die frühmorgendlichen Geräusche des Waldes formten sich zu einer fröhlichen Melodie, die er am liebsten mitpfeifen wollte, doch er konnte die Lippen nicht gleichzeitig spitzen und lächeln. Das Grau der Felsen zersplitterte zu tausend unterschiedlichen Grautönen, er konnte die kleinste Struktur

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