Der Drachenflüsterer - Der Schwur der Geächteten
ihrem Verschwinden noch immer Kleidung von ihr herum, das Bett war gemacht, aber verlassen. Es schien, als hätte hier niemand etwas angerührt.
»Packst du mir bitte zwei Röcke und Hemden ein?«, bat Nica Yanko. »Unten in meinem Schrank liegen Satteltaschen und ein Rucksack.«
»Mach ich.«
»Und dann holst du Proviant aus der Küche. Da sparen wir uns drei Tage jagen. Und nach all den Früchten und Tieren aus dem Wald freue ich mich auf ein einfaches Brot mit frischem Käse.«
Wieder nickte Yanko.
»Ben kommt mit mir zu Mutter.«
»Aber warum kann nicht er das ganze Zeug...«, setzte Yanko an.
»Du weißt besser, was ich mag. Und du bist hier schon einmal eingestiegen, hast du erzählt.« Sie lächelte. »Danach gehen wir zusammen in Sidhys Zimmer und holen mir noch eine Hose. Das ist viel besser, um auf einem Drachen zu reiten. Wenn ihr etwas braucht, bedient euch.«
»Sidhy statte ich gern einen Besuch ab.« Yanko grinste und schlich zum Schrank hinüber. Auch Ben dachte an die Demütigungen, die ihnen Nicas Bruder vor nicht allzu langer Zeit zugefügt hatte, und hatte nichts dagegen, ihn zu überraschen.
Ben folgte Nica aus dem Zimmer in einen dunklen Flur, an dessen Wänden er Bilderrahmen erkennen konnte, doch er achtete nicht auf sie. Nica hatte den Arm ausgestreckt und
berührte mit den Fingern die Mauer, als suche sie Halt. Vielleicht sah sie auch nur schlecht.
Im Erdgeschoss unten knarzte eine Diele, dann herrschte wieder Stille. Ben hatte keine Angst, erwischt zu werden, solange die drei Drachen hinter dem Haus auf sie warteten. Welcher Diener sollte gegen sie etwas ausrichten können? Ein Schrei, und sie würden mit starken Klauen die Wände einreißen und ihnen zu Hilfe eilen.
Der Flur knickte nach links ab, und Nica öffnete bedächtig die erste Tür auf der rechten Seite. Lautlos huschte Ben hinter ihr in das Zimmer, dann verschloss sie die Tür wieder.
»Verschränk die Arme und schau grimmig«, zischte ihm Nica zu, und er gehorchte. Dann hörte er ein schabendes Geräusch, und ein Zunderstäbchen flammte auf. In dem schwachen, flackernden Licht schälte sich ihre Umgebung aus der Dunkelheit.
Sie standen in einem penibel aufgeräumten Schlafzimmer, das ein Stück größer war als Nicas. Zwei Paar schwere rote Vorhänge hingen an der gegenüberliegenden Wand bis zum Boden herab, der aus einem verschnörkelten Holzmosaik bestand, und verdeckten vermutlich zwei Fenster. Die rechte Wand wurde fast vollständig von einem mächtigen Kleiderschrank ausgefüllt, der mit den unterschiedlichsten Farben bemalt war. Blumen und Ornamente umrahmten Bilder von einer fröhlichen Jagdgesellschaft und drei knienden Rittern, die einem kleinen schwarzen Vogel einen Schwur leisteten. Ben erinnerte sich nicht mehr, aus welcher Legende diese Szene stammte, doch er hatte sie sicher schon einmal gehört. Auf einem Thron hinter den Rittern saß eine blinde Frau, in deren blondem Haar drei dunkle Federn steckten.
An der linken Wand befand sich ein fein gearbeitetes Bett
mit einem himmelblauen Baldachin, der mit einer breiten Bordüre verziert war. Auf einer Kommode daneben stand ein vierarmiger Leuchter, dessen Kerzen Nica eben mit dem Zunderstäbchen entzündete. Im Bett regte sich eine bleiche Frau mit unordentlichem Haar und eingefallenen Wangen. Verwirrt öffnete sie die Augen.
»Guten Abend, Mutter«, sagte Nica eisig. »Du bist schmal geworden.«
Und alt, dachte Ben, der sie als schöne Frau in Erinnerung hatte, die zwar selten, aber dann mit stets aufrechter Haltung durch Trollfurt gegangen oder kutschiert war, ein gnädiges Lächeln im Gesicht und immer Zeit übrig für ein freundliches Wort oder Nicken, wenn sie höflich gegrüßt wurde.
»Nica...«, hauchte die Frau und richtete sich ruckartig auf. Kurz schien es, als wollte sie lachen, dann verzog sie das Gesicht zu einer schwer lesbaren Grimasse aus Angst, Freude, Schuldbewusstsein und Überraschung. »Kind, wo hast du gesteckt?«
»Als ob dich das interessiert.« Nica hatte das Kinn vorgereckt. Sie zitterte, und es kostete sie sichtlich Anstrengung, nicht loszuschreien. Langsam zog sie die oberste Schublade der Kommode auf und holte eine lange Nadel hervor. Das Metall blitzte im flackernden Kerzenlicht. »Wenn es nach dir gegangen wäre, wäre ich tot.«
»Nein. Nein! Das war die Idee deines Vaters. Sie haben ein Opfer von ihm verlangt. Ich wollte es nicht, aber er hat gesagt, du musst es sein. Keine Fremde.« Sie rutschte an die Bettkante,
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