Der Drachenthron: Roman (German Edition)
fallen und sah, dass der Boden tief unter ihr zu Leben erwacht war. So weit das Auge reichte, erhob er sich kriechend, wogte dahin, bewegte sich mit unzähligen Kleinen. Abertausenden. Abermillionen.
Pfeile. Sie schloss die Augen und spürte, wie sie gegen ihre Schuppen schlugen.
Sie flog über ihre Köpfe hinweg, als würde sie sanft über einen Wald gleiten. Die Kleinen steckten in primitiven Metallhäuten. Speere und Äxte kratzten an ihren Schuppen. Sie öffnete das Maul und ließ das Feuer aus sich herausströmen, erfüllte die Welt mit Schreien und ihr eigenes Herz mit köstlicher Freude. Überall taten die anderen Drachen dasselbe. Sie spürte das Gefühl von Macht, das von dem in Silber gekleideten Mann auf ihrem Rücken ausging. Unaufhörlich stachelte er sie an, trieb sie an, damit sie tötete, tötete …
Es waren so viele Kleine. Sie verbrannte sie zu Hunderten, und sie starben, und die Toten wurden von der Horde verschluckt, als hätten sie nie existiert.
Auf einmal erwachten die Toten zum Leben, waren verkohlt und gekrümmt, wandten sich gegen die Lebenden, kratzend und reißend. Das silberne Geschöpf auf ihrem Rücken befahl es ihnen. Es lachte, und sie tat es ihm gleich.
Und dann geschah etwas, und das silberne Geschöpf auf ihrem Rücken war verschwunden, und ihre Flügel wollten nicht fliegen, und sie konnte sich weder bewegen noch denken, als habe eine riesige Klaue ihren Geist gepackt und zerdrückte ihn ganz langsam.
Sie erinnerte sich, wie sie zu Boden stürzte und die Kleinen um sie herum auseinanderstoben, während die Krallen immer tiefer in ihr Bewusstsein sanken, und dann erinnerte sie sich an nichts mehr.
Nein. Nicht an nichts. Sie war wieder ein Ei. Sie war ein winziger Teil von etwas Großem. Sie konnte weder sehen noch hören, aber sie konnte die Gedanken Hunderter Drachen spü – ren, hell und klar.
Sie erwachte. Der Himmel war in Dunkelheit gehüllt, obwohl die ersten Schimmer der Morgendämmerung über die Berggipfel glitten. Schneeflockes Kopf war immer noch mit Träumen erfüllt – Hunderten von ihnen. Sie fühlten sich längst nicht mehr wie Träume an, sondern wie echte Erinnerungen. Aber das konnte nicht sein. Es gab keine hundert anderen Drachen in ihrem Nest, geschweige denn tausend. Außerdem hatten die anderen auch nie solche Gefühle gehabt. Die Drachen in ihren Träumen hatten Gedanken, die wie Brillanten funkelten. Die Drachen in ihrem Nest waren farblos und langweilig.
Sie war nie weit von ihrem Nest weggekommen. Das wusste sie. Sie war nie an den Orten gewesen, an die sie sich nun erinnerte. Sie hatte nie die Gegenwart dieser silbernen Männer gespürt, deren Bewusstsein wie die Sonne brannte. Ganz zu schweigen vom Schweben über ein Meer aus Kleinen, das Feuerspucken, das Verbrennen …
Die Erinnerung war jedoch geblieben. Sie hatte es genossen. Mehr als das. Es war das Erhabendste, das sie je vollbracht hatte.
Aber sie hatte es nicht getan. Sie konnte es nicht getan haben. Es waren Träume, keine Erinnerungen, und sie konnten nicht real sein. Mühsam versuchte sie, einen Sinn hineinzulesen, doch es war viel zu kompliziert, und sie war schon wieder hungrig. Hier draußen in den Bergen wurde sie oft hungrig. Es gab allerdings genug Nahrung, wenn man wusste, wo man danach suchen musste.
Als die Sonne aufging, erhob sie sich in die Lüfte und ließ den Kleinen erneut zurück. Sie spürte seine Traurigkeit. Es gefiel ihm gar nicht, allein zurückzubleiben. Das konnte sie nicht nachvollziehen. In ihrem Nest hatte es immer andere Drachen und auch andere Kleine gegeben. Selbst nachts, in der Dunkelheit, hatte sie das Schwirren ihrer Gedanken gespürt. Niemals zuvor war sie so allein gewesen wie hier, und dennoch hatte sie sich noch nie so sonderbar glücklich gefühlt.
Ohne den Kleinen, der ihr nur ein Klotz am Bein war, wagte sie sich bei ihren Jagdausflügen in immer fernere Gefilde vor. Sie suchte nach Flusstälern und folgte ihnen dann, schoss hoch in den Himmel, ließ den Blick schweifen und wartete darauf, dass ihre Beute zum Trinken aus den Wäldern herauskam. Manchmal war es ein Bär, manchmal ein Reh, manchmal eine Herde Schnäpper. Sie musste vorsichtig vorgehen, da die Tiere stets in der Nähe des Waldrands blieben, und sobald sie den Schutz der Bäume erreichten, waren sie so gut wie gerettet. Also beobachtete sie ihre Beute eine Weile, bis sie sicher war, dass sie am Fluss ihren Durst stillen wollte, bevor sie die Flügel anlegte und hinabtauchte.
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