Der Drachenthron: Roman (German Edition)
Worte nicht mehr, sie blickte direkt in sein Bewusstsein. Und wenn sie ihm antwortete, suchte sie in seinem Innern nach Dingen, die er verstehen würde.
»Wir müssen nach Hause«, empfing er sie, als sie vom Jagen zurückkehrte und immer noch frisches Blut an ihren Klauen klebte. »Ich muss dich den anderen zeigen.«
Ich bin nicht wie sie. Weshalb?
»Das weiß ich nicht, Schneeflocke. Es ist ein Wunder.«
Wunder? Er spürte ihre Verwirrung. Nein. Kleiner Kailin, es kommt mir so vor, als sei ich aus einem Traum erwacht, der schon Hunderte Leben währte. Ich verstehe weder, wie ich erweckt wurde, noch weiß ich, wie ich in diesen Schlummer gesunken bin.
»Wir fliegen nach Hause. Wir können Meister Huros oder einen der anderen Alchemisten fragen, oder sogar den Drachenmeister Isentine …«
NEIN! Fauchend schnappte sie nach ihm. Kailin krabbelte, von einer plötzlichen Todesangst erfüllt, hastig weg, bevor sie mit dem Kopf den Boden berührte, ein Zeichen der Unterwürfigkeit bei Drachen. Ich wollte dich nicht ängstigen, Kleiner Kailin. Ich werde dir nicht wehtun, doch genauso wenig werde ich zurück an diesen Ort gehen.
»Warum nicht?« Kailin beobachtete sie argwöhnisch.
Meine Brüder und Schwestern dort sind gleichzeitig wach und schlaftrunken. Ich könnte es nicht ertragen, wieder in diesem Zustand dahinzuvegetieren.
»Aber alle Drachen sind so! Außer dir. Du bist ein Wunder.«
Nein, Kleiner Kailin. Das glaube ich nicht. Wir alle waren so, vor langer Zeit. Ich habe es in Träumen gesehen. Erinnerungen aus anderen Leben, die ich gelebt habe. Viele, viele Leben, doch alle aus längst vergangenen Zeiten. Ich erinnere mich, wie meine Artgenossen zu Hunderten flogen. Ich erinnere mich an die silbernen Götter und das Auseinanderbersten unserer Welt, dann an hundert Leben voll köstlich schöner Gedanken und Freiheit. Und dann, Kleiner Kailin, hat sich etwas verändert, und alles ist seitdem in einem endlosen, dumpfen Nebel verschwommen, der grau und undurchdringlich ist. Außerhalb meiner Reichweite. All meine Artgenossen führen ihre Leben wie Schlafwandler. Irgendwie ist es dir gelungen, mich aufzuwecken. Wie hast du das geschafft, Kleiner Kailin? Wie hast du mich geweckt? Ich werde erst zu meinen Artgenossen zurückkehren, wenn ich eine Antwort auf diese Frage habe. Wenn ich ihnen dieses Wissen schenken kann.
»Ich weiß es nicht.«
Aber ich weiß es. Deine Gedanken sprechen für sich. Es gibt andere Kleine, die über ein größeres Wissen verfügen, die vielleicht die Antworten haben. Du kennst sie. Du möchtest mich zu ihnen bringen.
»Du wärst das Wundergeschöpf der Reiche.«
Da bin ich mir nicht so sicher, Kleiner Kailin. Möchtest du meine Erinnerungen an deine Artgenossen sehen, die ich in meinen früheren Leben gesammelt habe?
»Natürlich.«
Visionen stürzten auf ihn ein. Er sah ein Meer aus Armeen, Hunderttausende Soldaten, mehr als er sich in seinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können. Er sah, wie er zwischen ihnen landete, mit dem Schwanz durch ihre Reihen peitschte, sie wie Blätter auseinanderwirbelte, sie in ihren kleinen Metallhüllen zu Brei zermalmte. Er spürte das Feuer, das sich in seiner Kehle bildete und in einem explosionsartigen Schwall aus ihm herausbrach. Die Luft war erfüllt vom Gestank nach verbranntem Fleisch. Und er spürte, wie der Appetit in ihm wuchs. Nach mehr, mehr, mehr …
Kailin schrie. Die Vision verschwand schlagartig.
Verstehst du jetzt? In meinem Traum sind deine Artgenossen nichts weiter als Beutetiere, und eure Gedanken waren stets von hoffnungsloser Angst erfüllt. Warum nur möchtest du eine solche Welt wiederherstellen?
»Nein, nein, nein!« Kailin schüttelte den Kopf. »Drachen und Menschen haben jahrhundertelang friedlich nebeneinanderher gelebt. Wir haben euch geholfen. Ihr wart vom Aussterben bedroht. Wir haben uns um euch gekümmert. Wir haben uns immer um euch gekümmert. Nein!« Er schüttelte erneut den Kopf. »Geh zurück in dein Nest, Schneeflocke. Unsere Königin ist gut und weise. Sie wird wissen, was zu tun ist.«
Der Drache legte den Kopf schief. Du hast gesehen, was wir waren, und dennoch fürchtest du diese Königin mehr als uns? Wie seltsam. Ich weiß, dass du jedes Wort wahrhaftig ernst meinst. Vielleicht … Schneeflocke hob den Kopf vom Boden. Sie setzte sich auf die Hinterläufe und schlug einige Male mit den Flügeln. Ein Zeichen der Warnung.
Nein , sagte sie schließlich. Ich werde nicht zu dem Ort
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