Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift
hinausgehen. Hilfreich war außerdem, dass er nicht sprach oder sang, und dass sein Rasierwasser diese herbe Zitrusnote hatte, die ich gern mochte.
Wenn Ray überhaupt den Mund auft machte, dann nur um mich zu beschwören, mich zu entspannen. »Geht doch ganz gut, Doc«, sagte er nach dem ersten Lied. »Ich glaube sogar, wir könnten noch eine Runde drehen.«
Er hatte meine Hand nicht losgelassen. Ich sah mich im Zimmer um, ob wir Publikum hatten. Leo schichtete Häppchen zusammen, sah aber her. Er zog eine Augenbraue hoch. Ich interpretierte das als stumme Frage: Soll ich dich retten?
Ich zuckte die Achseln.
Eine Krankenschwester mit Kurzhaarfrisur in mindestens zwei Grundfarbtönen nahm Leo an der Hand und führte ihn auf das Stück Holzboden, das als Tanzfläche diente. »Amüsierst du dich?«, fragte mich Leo.
»Da können Sie Gift drauf nehmen«, antwortete Ray und reckte den Daumen hoch. Meine Hand ließ er auch dabei nicht los.
Ein Anruf riss mich aus dem Schlaf. Lag ich in meinem eigenen Bett oder auf dem Klappbett im Bereitschaftsraum? Ich brauchte ein paar Sekunden, um mich in der Dunkelheit zu orientieren, dann fiel es mir wieder ein: Dieses Wochenende hatte ich frei. Gut. Das war bestimmt die Klinik, aber diesmal waren sie an die Falsche geraten.
Doch es war nicht die Klinik. Es war meine Mutter. Sie sprach mit erstickter Stimme.
»Ist was mit Daddy?«, fragte ich tonlos.
»Es geht um Nana«. Sie brachte die beiden Silben gerade eben zwischen zwei Schluchzern hervor.
»Was ist mit Nana?«
»Sie ist von uns gegangen! Einfach so. Von einem Moment auf den anderen. Lungenentzündung! Als ob man das nicht behandeln könnte!«
Meine Großmutter war vierundneunzig, litt seit einem Vierteljahr an kongestiver Herzinsuffizienz und bekam seit einem Dreivierteljahr Dialyse. »Für alte Leute ist Lungenentzündung ein großes Risiko.«
Ich sah auf meinen Wecker: Es war 3.52 Uhr.
»Mir blieb das Herz stehen, als das Telefon läutete, ich wusste gleich Bescheid. Das war der Anruf, vor dem ich mich mein ganzes Leben gefürchtet hatte.«
»Ist Daddy da?«
Mein Vater kam an den Apparat. »Ich habe ihr gesagt, sie soll dich nicht wecken. Was solltest du um vier Uhr morgens schon groß tun? Um deinen Schlaf kommen, mehr nicht.«
»Vierundneunzig Jahre«, sagte ich. »Morgen früh erkennt sie vielleicht, dass es eine Gnade war.«
»Hab ich schon versucht, das kannst du mir glauben.«
»Was versucht?«, fragte meine Mutter.
»Dir klar zu machen, Joyce, dass deine Mutter ein langes, erfülltes Leben hatte, die ersten dreiundneunzig Jahre davon bei bester Gesundheit war, und dass jede Frau, die ihren sechzigsten Geburtstag noch mit ihrer Mutter feiern kann, sich wirklich glücklich schätzen kann.«
»Ich soll jetzt wohl dankbar sein für das, was ich hatte«, hörte ich meine Mutter sagen. »Aber ich weine, weil sie nicht mehr da ist, klar? Muss ich mich jetzt dafür rechtfertigen?«
»Sei lieb zu ihr«, mahnte ich meinen Vater.
»Bin ich doch«, sagte er zu mir, und dann, an meine Mutter gerichtet: »Ich weiß, Liebes. Ich verstehe dich ja. Keine Mutter kann lang genug leben, um es ihren Kindern recht zu machen. Es ist immer zu früh.«
Meine Mutter hob ihre Stimme, damit ich sie auch ja hören konnte. »Manche Töchter hassen ihre Mütter. Manche Mütter hören einmal die Woche von ihren Töchtern - wenn sie Glück haben. Ich habe jeden Tag mit meiner telefoniert. Zweimal täglich. Sie war meine beste Freundin.«
»Wann ist die Beerdigung?«, fragte ich.
»So weit sind wir noch nicht. Sie muss noch ihre Schwestern anrufen.«
»Ich habe dich als Erstes angerufen«, hörte ich von der anderen Seite des Bettes.
»Tut mir Leid, dass wir dich geweckt haben. Ich konnte sie nicht aufhalten. Deine Nummer geht über Automatikwahl.«
»In zwei Stunden muss ich ohnehin aufstehen«, tröstete ich ihn.
Diesen relativ untraumatischen und vorhersehbaren Todesfall bringe ich nur deshalb aufs Tapet, weil für Ray die Beerdigung meiner Großmutter als drittes Date zählt. Er war ein Genie darin, für mich da zu sein, wenn ich ihn am wenigsten wollte oder brauchte. Am Montag nach der Party rief er an, und Leo hob ab. »Ihre Großmutter ist gestorben. Ich weiß also nicht, wann sie Sie zurückrufen wird«, erklärte Leo ihm.
Ray piepte mich in der Klinik an und sagte, ohne seinen Namen zu nennen: »Ich fahre Sie hin, wo immer Sie hin müssen.«
Ich sagte, das sei nicht nötig. Ich hätte Verwandte in
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