Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift
mathematischen Größen?
»Wie viele Schlafzimmer?«
»Fünf.«
»Fünf! Für wie viele Kinder?«
»Zwei. Aber eines ist das Gästezimmer, und das andere das Atelier meiner Mutter.«
»Für was?«
»Textile Kunst«, gestand ich.
Ray blickte sinnend vor sich hin, eine seiner psychologischen Spezialitäten: Tatsachen abspeichern, um sie bei späterer Gelegenheit als Zeichen seiner einzigartigen Aufmerksamkeit zur Hand zu haben. »Ist das so was wie Weben?«
»Weben gehört auch dazu. Sie arbeitet mit verschiedenen Materialen - Wolle, Federn, Zeitungen, Fotos, Knochen.«
»Menschliche oder tierische?«
Das könne er sie selbst fragen, meinte ich. Es würde ihr bestimmt großes Vergnügen bereiten, sich mit jemandem darüber unterhalten zu können. Freunde und Verwandte hatten nämlich längst genug von ihren zottigen Wandteppichen, sowohl als Gesprächsthema als auch als Kunstform.
»Vielleicht bei einem späteren Besuch, aber heute werde ich dieses Thema sicher nicht anschneiden«, sagte der Meister der Beerdigungsetikette. Er wies auf den silberfarbenen Lieferwagen in der Einfahrt und las beifällig: »Feiern mit Frederick«.
»Der Partyservice. Die Leute kommen nach dem Begräbnis hierher zurück.«
»Gibt’s ein Büffett, was meinen Sie?«
»Irgendetwas nicht zu Pompöses. Als mein Großvater starb, hatten wir Häppchen und Petits Fours.«
»Wie läuft das Ganze jetzt ab? Soll ich Sie hier wieder abholen?«
Ich sah auf die Uhr und rechnete laut. »Gottesdienst um elf, dann auf den Friedhof, dann auf eine Stunde hierher zurück. Wie hört sich halb zwei an? Ich komme raus.«
»Doc«, sagte Ray, »das hört sich furchtbar an. Sie werden bestimmt nicht hier rein- und rauslaufen, als wären Sie angepiept worden. Ihre Großmutter ist gestorben, nicht irgendein Urgroßcousin.«
»Also dann halb drei?«
»Ich würde auch mit in die Kirche gehen. Ich finde so was immer sehr erbaulich, auch wenn ich die Verstorbenen nicht kannte.«
Was blieb mir anderes übrig, als ihn mitzunehmen, nachdem er so viel Benzin und Kilometer investiert hatte? Sein Interesse an textiler Kunst nicht zu vergessen! »Ich glaube, ich werde mit den nächsten Angehörigen in der Limousine fahren. Aber wenn Sie auch in die Kirche kommen möchten, ist das bestimmt kein Problem.« Ich griff nach dem Türöffner. »Jetzt glaube ich aber, dass ich erst mal mit meiner Mutter allein sein sollte.«
»Unbedingt. Ich will bestimmt nicht im Weg herumstehen, während sie sich fertig macht.«
Um meine Mutter machte ich mir überhaupt keine Sorgen, sie würde auch in der größten Tragödie Haltung bewahren. Aber ich brauchte einen ungestörten Augenblick, um ihr zu erklären, dass der grobschlächtige Mann in dem roten Wagen nur ein Bekannter war und - nicht dass sie an einem Tag wie diesem auch nur im Entferntesten an so etwas denken würde - gänzlich ungeeignet für jedwede andere Rolle. Und der Aufkleber von dieser Nobel-Uni auf der Heckscheibe? Hatte nichts zu bedeuten - stammte noch vom Vorbesitzer des Wagens.
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich schnell bei Ihnen die Toilette benutze?«
In Ordnung, sagte ich. Gleich neben der Haustür befinde sich eine.
»Dreißig Sekunden. Inklusive Hände waschen«, versprach er.
Er nahm sein graues Nadelstreifensakko vom Haken, zog es an, zupfte seine Manschetten zurecht, strich seine silberne Krawatte über dem Brustbein glatt. »Nicht schlecht, hm?«, fragte er.
Ich ging bereits den gepflasterten Weg zur Haustür und wandte mich nicht um, sondern öffnete die Tür und rief: »Jemand zu Hause?«
Ray stand direkt hinter mir. »Mensch. Tolles Haus.«
Im Eingangsflur befand sich ein Garderobenständer mit so vielen hölzernen Kleiderbügeln, dass ich mich fragte, welche Ausmaße der Empfang nach der Beerdigung wohl annehmen würde. Ich deutete auf die Gästetoilette, und Ray hastete hinein.
Oben auf dem Treppenabsatz erschien mein Vater in schwarzem Velours-Bademantel und krankenhausblauen Frotteepantoffeln. Als er die unterste Stufe erreicht hatte, umarmte ich ihn. Dabei drückte ich ihn kaum merklich länger an mich als bei unseren sonst halbjährlich stattfindenden Umarmungen.
»Alles in Ordnung?«, fragte er mich.
Mit mir sei alles in Ordnung, antwortete ich. Natürlich sei ich traurig, doch wenn man wie ich ständig Menschen viel zu früh sterben sieht, dann konnten einen vierundneunzig wohl kaum -
»Wir haben Frederick praktisch von einer Minute auf die andere bekommen«, verkündete
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