Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift
war die Hölle für sie und für mich«, schrie Marietta. »Ich hatte also nicht so wahnsinnig viel Zeit, Namensschildchen in meine Kleider zu nähen.«
»Alice hatte keine Ahnung«, sagte mein Vater.
Nun gesellte sich auch Ray zu uns. »He! Ich habe Sie bis hinters Haus gehört! Warum brüllen Sie Alice so an?«
Ich erklärte ihm, dass Mariettas Mutter an einer äußerst langwierigen und kräftezehrenden Krankheit gestorben sei, mir das aber vorher niemand gesagt hatte.
»Dann schneiden Sie sich mal ein Scheibchen von mir ab«, sagte er zu Marietta. »Meine Frau ist kürzlich gestorben, und trotzdem weiß ich, wie ich mich auf einer Beerdigung benehmen muss.«
Mein Vater versuchte Marietta zu beruhigen und gleichzeitig Ray daran zu hindern, auch nur noch einen einzigen weiteren Ton verlauten zu lassen.
Meine Mutter saß jetzt ohne Schuhe auf der Treppe und murmelte: »Wenn es etwas gibt, auf das man sich verlassen kann …«
»… dann wäre das?«, fragte ich.
»Auf deine Umgangsformen«, erwiderte sie. »Wenn man sich auf die verlässt, ist man verlassen.«
»Vielleicht benutzt Alice ihr Hirn ja mehr für die medizinische Wissenschaft und hat deshalb nicht so viel Zeit, sich um Feinheiten zu kümmern, die andere so beschäftigen«, sagte Ray.
»Ich habe Freunde, die Ärzte sind, und trotzdem Fernsehsendungen moderieren könnten«, entgegnete Marietta verschnupft. »Oder das Unterhaltungsprogramm auf einer Kreuzfahrt organisieren.«
»Sind das Chirurgen?«, fragte ich.
Meine Mutter seufzte. Mein Vater sah zu Ray hinüber.
»Vielleicht sollte ich Alice jetzt nach Hause bringen«, meinte Ray.
Zweimal machten wir Kaffeepause. Ich sprach nicht viel - eigentlich noch weniger als sonst -, weil ich mich auf eine Art Dankbarkeitsbekundung vorbereitete. Zwischen einzelnen Schlucken sagte ich: »Ich fahre nicht oft nach Hause. Normalerweise sage ich irgendetwas Taktloses, und alle sind wochenlang sauer.«
»Bis?«
»Bis meine Mutter anruft und sich über meine Schwester beschwert. Niemand entschuldigt sich. Es geht einfach vorbei.«
»Da hab ich schon Schlimmeres gehört. In manchen Familien bleiben die Leute sauer. Niemand ruft an und tut so, als ob alles in Butter wäre, weil die sich alle auf den Tod hassen.«
Ich erklärte ihm, dass es diesmal anders gewesen sei. Ich reiste immer ab wie heute - früher als geplant. Aber niemand verließ das Haus mit mir. Niemand ergriff meine Partei oder machte die anderen darauf aufmerksam, dass es die Mariettas dieser Welt waren, die keine Umgangsformen hatten.
» Und? «
»Na ja, ich glaube, das heißt ›danke‹.«
»Gern geschehen.«
Ein paar Meilen später fragte er: »Wer hat Sie so weit gebracht?«
Ich fragte, was er damit meinte. »Ihre Eltern? Waren die das? Haben die Sie je aufgebaut? Ihnen gesagt, dass Sie klug sind und hübsch - ihr Augenstern, ihr ganzer Stolz und ihre ganze Freude?«
»Stolz und Freude schon. Aber wegen dem, was ich tat, nicht wegen meines Aussehens.«
Ich merkte, dass er mein Profil studierte, auf der Suche nach einem diplomatischen Gegenargument. »Wie schade«, sagte er schließlich. »Wenn man bedenkt, dass Sie so viele Jahre - wie viele eigentlich? Fünfundzwanzig?«
»In zwei Monaten werde ich siebenundzwanzig.«
»Dass Sie all diese Jahre mit der Vorstellung herumgelaufen sind, Sie wären - wie würden Sie’s nennen? Unattraktiv?«
»Ja«, bestätigte ich.
»Davon will ich nichts mehr hören!«
Ich zuckte nicht zusammen, als seine Hand sich auf mein Knie legte. Ich hielt das für eine mehr brüderliche denn eine sexuelle Geste. Anfangs. Er ließ die Hand dort liegen, bis er - gute 25 Kilometer später - herunterschalten musste. Als sie dann ihren alten Platz wieder einnahm, ein Stückchen weiter oben und eindeutig weniger brüderlich, ließ ich auch das geschehen. Ich war auch nur ein Mensch. Niemand sonst fuhr mich so weit über Land oder verbannte abwertende Adjektive aus meinem Vokabular. Niemand sonst riss die Augen auf, wenn ich über die beiden Wochen berichtete, die ich im Rahmen eines Freiwilligenprogramms für plastische Chirurgen in einem abgelegenen Dorf in British Honduras verbracht hatte, um dort den Ausgestoßenen zu helfen. In ein paar Jahren war ich dreißig. Meine Schwester war lesbisch. Ich war heterosexuell und hatte das Potenzial, zum Lieblingskind zu avancieren. Und da saß ich nun in einem Schalensitz und ließ mir mein ungeliebtes Bein streicheln. Von dem Mann auf dem Nebensitz.
7
DAS
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