Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift
was es nicht gibt«, tröstete ich ihn. Ich selbst hatte miterlebt, wie eine der unausstehlichsten Jungärztinnen Tag für Tag mit ihrem nicht minder widerlichen Vorgesetzten aneinander geriet, und die beiden dann bei der Weihnachtsfeier ihre Verlobung bekannt gaben.
»Heißt das jetzt, es gibt noch Hoffnung, oder heißt das ›Lass uns Freunde sein, Ray. Du und ich, wir kommen aus verschiedenen Welten. Wir sind zwar in Amerika, wo angeblich alle gleich sind, und du ziehst dich gut an, fährst ein tolles Auto und bist selbstständig, aber was ich brauche, ist jemand, den ich auch zu einem Ärztetreffen mitnehmen kann, der mich nicht blamiert oder sich vollaufen lässt oder dem Gastgeber übers Maul fährt.‹«
Das musste ich natürlich mit etwas Demokratischem und Egalitärem parieren. »Ich habe dich mit zu meinen Eltern genommen, oder? Und übrigens bin ich dir sehr dankbar, dass du meinem Vater heute übers Maul gefahren bist. Das zeugt meiner Meinung nach nämlich sowohl von starkem Selbstbewusstsein als auch von Schlagfertigkeit.«
»Von meinem sicheren Instinkt, oder was?«
»Ja, das auch. Unbedingt. Und von deiner Courage.«
»Herzlichen Dank! Das sollen die Leute ja auch von mir denken: Der Kerl hat Courage.«
»Bist du übergeschnappt?«
»Nein. Nicht übergeschnappt. Geknickt, vielleicht. Und noch immer einsam. Aber mach dir darüber keine Gedanken. Das ist mein Los.« Er ging zur Tür und sagte mit der Andeutung eines Winkens: »Bis dann.«
»Bis dann«, sagte ich.
Er öffnete die Tür, blieb jedoch auf der Schwelle stehen. »Viel Glück, Doc. Ich hoffe, du hast ein tolles Leben und … kurierst alle Hasenscharten entlang des Amazonas.«
»Das ist sehr lieb.«
Leos Tür war geschlossen. Doch das fröhliche Geplänkel zwischen seiner und einer unbekannten weiblichen Stimme drang undeutlich nach draußen. Höflichkeitshalber klopfte ich und sagte, »Bin wieder da«, um uns allen die Verlegenheit zu ersparen, die uns heftigere Geräusche oder leicht bekleidete Auftritte im Flur hätten bescheren können.
Eigentlich hätte ich beim Einschlafen an meine dahingeschiedene Großmutter denken oder mir Sorgen um meine letzte Beurteilung machen müssen. Stattdessen ging mir nicht aus dem Kopf, wie ich kaltes Wasser auf Rays Flammen gegossen hatte. Gab es vielleicht Literatur zum Thema? Die Kunst, einen verschmähten Liebhaber auf seinen angestammten Platz als platonischer Freund zurückzuverweisen. Konsequent, und ohne ihm falsche Hoffnungen zu machen ?
War eine Entschuldigung angebracht? Ein Obstkorb? Ein Gutschein? Eine Präsidentenbiografie auf Audiokassette?
Leo würde das wissen. Morgen früh würde ich ihn fragen.
Um 5 Uhr 45 klopfte er an meine Tür. »Müsstest du nicht in fünfzehn Minuten auf der anderen Straßenseite sein?«, brüllte er.
Ich ächzte. Zweimal hatte ich die Schlummertaste gedrückt und war wieder zurückgesunken in einen tiefen REM-Schlaf und einen Traum voller Cousins und Buntglas. »Kaffee ist gerade in der Mache«, meldete Leo. »Wenn du dir drei Minuten zum Duschen nimmst, zwei Minuten zum Anziehen und fünf Minuten für dein Müsli, dann bleiben dir noch fünf Minuten, um über die Straße zu laufen und auf deine Station zu kommen. Vorausgesetzt , du kriegst deinen Hintern jetzt sofort aus dem Bett.«
Weder der Weckruf noch das Müsli waren Teil unserer Hausordnung. Schlagartig war mir klar, was hier los war: Er gab den fürsorglichen Hausgenossen, weil er vor Publikum spielte.
»Ist dein Gast noch hier?«, fragte ich. Als er nicht antwortete, sagte ich: »Ich dachte, ich hätte heute Nacht eine Frauenstimme aus deinem Zimmer kommen hören.«
Ich saß mittlerweile auf der Bettkante und glotzte meine Füße an. Auf ein paar Zehennägeln waren noch lila Lackreste zu erkennen, Überbleibsel einer sommerlichen Verschönerungsaktion. Irgendwo hatte ich bestimmt noch Nagellackentferner. »Bin schon wach«, rief ich. Und dann, lauter: »Leo? Bist du noch da?«
»In der Küche!«
»Allein?«
»Sie ist nicht über Nacht geblieben, wenn du darauf hinauswillst.«
Über meinen OP-Kittel zog ich meinen Bademantel an. Er war aus dünner, gelber Baumwolle und ein Andenken an einen Einsatz in einem Krankenhaus für Kriegsveteranen. Ich setzte mich an den Küchentisch und sagte: »Ich glaube, dass ich mir den Kaffee vor dem Duschen gönnen werde.« Ich schüttete ein paar Frühstücksflocken in eine Schüssel. »War sie nett?«, fragte ich. »Jemand Neues und
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