Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift
bedeuten, meinen Sie nicht?«
Doch meine Mutter hatte genug: Ihr aufgestauter Kummer fand ein neues Ventil, einen neuen Feind in Gestalt der regenbogenbunten, allzu gelassenen Frau Gottes. Zu den feierlichen Klängen der Schlusshymne machte sie Dr. Nancy Jones-Fuchs mit wenig Herzenswärme klar, dass ihre Dienste am Grabe nicht mehr benötigt würden.
Ray hatte als Einziger daran gedacht, ein Gebetbuch aus der Kirche mitzunehmen. Meine Tante Patricia schlug vor, meine Großmutter schweigend zu ehren, wie die Quäker. Nach einigen Minuten schlug Ray das Gebetbuch auf. Wir sahen zu ihm hinüber. Als Erstes reichte er es meiner Mutter. »Ich kann das nicht«, sagte sie. Auch Tante Patricia konnte nicht. Blieb noch mein Vater, der mich ansah.
»Ich könnte einen Psalm vorlesen«, bot Ray an. »Oder nur ein paar Worte sagen. Was Sie denken, dass ihr lieber gewesen wäre.«
»Lesen«, sagte ich.
»Psalm 23 steht auf Seite 82«, flüsterte der Leichenbestatter.
Ray rezitierte ihn auswendig, mit geschlossenen Augen und mehr Gefühl, als ich vermutet hätte. Als er geendet hatte, sagte er: »Ich kannte Betty nicht, aber ich hätte sie gerne gekannt.« Dann wurde seine Stimme wieder kecker. Er klopfte mit dem Gebetbuch auf den Sarg und sagte: »Tut mir Leid, Betty, dass Ihnen ein völlig Unbekannter das allerletzte Gebet sprechen musste, aber ich schätze, dass ich Sie genauso gut kenne wie diese lahme Pfarrerin. War das vielleicht ärgerlich. Und ich glaube, Sie und ich, wir wären gute Freunde geworden, wenn sich unsere Wege früher gekreuzt hätten.« Er blickte zu meiner Mutter hinüber, die ihm kopfnickend ihr Einverständnis gab fortzufahren. »Eigentlich müsste ich so was im Schlaf können, aber am Grab meiner Frau war ich nicht in der Verfassung, irgendetwas zu sagen. Sie ist letztes Jahr um diese Zeit von uns gegangen. Vielleicht hat Gott mir heute eine zweite Chance gegeben. Da fällt mir ein - wenn Ihnen da oben zufällig Mary über den Weg läuft, könnten Sie sie dann vielleicht zum Mittagessen einladen und ihr sagen, dass Ray ihr das spendiert?« Er erhob ein imaginäres Glas. »Auf Sie, Betty: Vierundneunzig, das ist kein Pappenstiel. Da haben Sie - wie viel? - zwanzig Präsidenten erlebt. Vier, fünf Kriege? Ich hoffe, Sie haben Tagebuch geschrieben, oder auf Band gesprochen, denn ich würde gerne die Glanzpunkte hören.«
»Das hat sie«, sagte meine Mutter.
»Was von beiden?«
»Ein Video aufgenommen. An ihrem neunzigsten Geburtstag.«
»Gott segne sie«, sagte Ray.
»Amen«, sagte der Leichenbestatter.
»Amen«, echoten wir anderen.
»Und jetzt?«, fragte meine Mutter.
Jeder Tischgast war aufgefordert, ihre Empörung zu teilen: Was für eine Beleidigung! Welche Verunglimpfung des Andenkens an Betty. Man stelle sich das einmal vor - vierundneunzig Jahre alt zu werden, damit einem schließlich unter anderem Namen eine Trauerrede gehalten wird. Und wer, zum Teufel, war diese Barbara ?
Als die Menge sich lichtete und meine Cousins abfuhren, gingen Ray und meine Mutter von seelsorgerischen Fehlleistungen zu textiler Kunst über. Ich erinnerte ihn daran, dass wir eine lange Fahrt vor uns hatten, und dass mein Dienst am nächsten Morgen um sechs Uhr begann.
»Du bleibst nicht über Nacht?«, rief meine Mutter aus.
»Das haben wir doch schon besprochen«, sagte ich.
»Einen freien Tag für das Begräbnis der Großmutter?«, sagte mein Vater. »Was ist das denn für ein Krankenhaus?«
»Ein Lernkrankenhaus mit fünfhundert Betten.«
»Die Show muss weitergehen«, meinte Ray.
»Ruf in ihrer Abteilung an. Die sollen diesen verfluchten Oberarzt ausrufen«, grollte meine Mutter. »Sag ihm, das ist eine Unverschämtheit. Ich brauche meine Tochter hier.«
Ich flitzte zwischen meinem Vater und der Küchentür hin und her. »Tu’s nicht, Dad, bitte. Das ist nicht wie bei einer Festanstellung. Wir gehen nicht in Krankenstand, und wir nehmen uns nicht frei, außer es geht um Leben und Tod.«
»Worum es in diesem Fall auch geht«, warf meine Mutter ein.
Ray ergriff ihre Hand. »Mrs. Thrift? Wie wär’s, wenn wir noch ein, zwei Stunden bleiben?«
»Alice trifft ihre eigenen Entscheidungen«, antwortete meine Mutter.
Ray geleitete sie zu einem ihrer Kunstwerke, das an einer Wand des Esszimmers hing. »Das gefällt mir am besten von allen im Erdgeschoss«, sagte Ray.
Wie eine Museumsführerin fragte sie ihn, ob er ihr erklären könne, warum.
»Der Seetang. Die Hummerschere. Sie erinnern mich an
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