Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift
GROSSE WECKEN
»Was ich mit ›bleiben‹ meinte«, sagte Ray, »wird allgemein mit nicht nach Hause gehen gleichgesetzt. Oder auch mit übernachten .«
Im Hausflur stehend erklärte ich ihm, dass auf der Brookline Avenue ein Nachtparkverbot herrschte, und dass gemäß den Vereinbarungen zwischen Leo und mir Übernachtungsgäste nicht erlaubt waren.
»Davon hab ich ja noch nie was gehört! Wie war das mit dem einvernehmlichen Sex? Ist das hier eine Resozialisierungsanstalt oder so was, mit Bestimmungen über Sex, Drogen und Waffen? Mach mir doch nichts vor! Das hast du dir gerade selbst zurechtgezimmert. Warum sagst du nicht einfach die Wahrheit? Warum sagst du nicht, ›Ray, ich hab Angst vor einem Mann in meinem Bett‹?«
»Weil ich keine habe. Ich halte es einfach für verfrüht und ungerechtfertigt.«
»›Verfrüht und ungerechtfertigt‹«, äffte er mich nach. Er trat näher und ergriff meine Hand. »Aber ich bin nun mal ein Mann aus Fleisch und Blut und kann Körpersprache ganz gut deuten. Und wenn ich mich nicht sehr täusche, hattest du vorhin durchaus nichts gegen meine Hand auf deinem Knie.«
Das mochte schon stimmen, meinte ich, sei aber darauf zurückzuführen, dass ich in meiner Bedrücktheit diese Intimität einfach zugelassen hätte. Körperkontakt musste nicht unbedingt immer sexueller Natur sein, oder?
»Aber doch meistens.«
Ich gab zu, dass ich keine Frau aus Fleisch und Blut war. Ich erkannte die Signale nicht und besaß offenbar auch nicht die hormonellen Sensoren, die dem Rest der Bevölkerung zur Verfügung standen. »Ehrlich gesagt ist es mir völlig schleierhaft, warum ein Mensch sich mit einem anderen treffen oder ihn durch die Gegend kutschieren oder mit ihm schlafen will, von dem überhaupt nichts zurückkommt.«
»Was ist daran schleierhaft, Alice? Ich möchte mit dir zusammen sein und mit dir schlafen und neben dir aufwachen, weil ich verrückt nach dir bin. Und zwar seit ich in dieses Untersuchungszimmer gekommen bin und festgestellt habe, dass der Arzt eine Frau ist, keinen Ehering trägt und, nach allem, was man so hört, auch sonst nicht anderweitig vergeben ist.«
»Von wem hört man so etwas?«
»Von der Sekretärin! Sie hat gesagt, du wärst nicht verheiratet.«
Ich sagte, ich bezweifelte sehr, dass Yolanda irgendwelche Auskünfte persönlicher Art über mich oder anderes Personal geben würde. Selbst wenn sie wollte, könnte sie das nicht, weil unsere Gespräche nie auch nur andeutungsweise über das rein Berufliche hinausgingen.
Ray grinste. »Das habe ich aus ihr herausgekitzelt. War gar nicht so schwer.«
»War Schokolade dabei im Spiel?«
Ray antwortete nicht.
»Sie ist eine berüchtigte Naschkatze. Alle ziehen sie damit auf und bestechen sie mit Godiva-Trüffeln.« Das heißt, alle außer mir. Yolanda war übergewichtig, bewegte sich kaum und kam aus einer Familie mit Diabetes Typ 2.
»Und wie wär’s mit einem Kuss?«
Ich wartete, zuckte die Achseln, legte mir die Handtasche um die andere Schulter und verkündete schließlich, dass ein Kuss akzeptabel wäre. Dann schloss ich die Augen.
Nichts geschah. Ich hörte, wie er sich entfernte, und als ich die Augen wieder öffnete, hatte er einen Sicherheitsabstand von drei Schritten zwischen uns gebracht und richtete sich soeben die Krawatte. »Weißt du was?«, sagte er. »Ich werde dich zu nichts zwingen. Du siehst aus wie ein Kind, das in ein Fischstäbchen beißt, wo es doch eigentlich mit Pommes gerechnet hat. Ich hab auch meinen Stolz.«
Wie es sich für eine gute Klinikerin gehörte, fragte ich: »War es, was ich gesagt habe, oder wie ich es gesagt habe?«
»Was spielt das für eine Rolle? Ich wollte dich küssen, und jetzt will ich nicht mehr.«
So etwas nenne ich Psychologie. Von einer Sekunde auf die andere war er die geschädigte Partei und ich die Böse.
»Es ist noch keine Minute her, dass ich dir gesagt habe, ich hätte mich in dich verliebt«, fuhr er fort. »Und was bekomme ich dafür? Einen ausdruckslosen Blick und ein Kreuzverhör, welche Sekretärin was gesagt hat.«
»Nicht ausdruckslos. Überrascht. Oder vielleicht erschöpft. Und ich war nicht diejenige, die Yolanda ins Spiel gebracht hat.«
»Wie dem auch sei. Es ist nicht sehr schmeichelhaft. Obwohl ich mir von meinem Leben nicht mehr allzu viel erwarte. Wie konnte ich mir einbilden, dass ich, Ray Russo, stinknormaler Witwer ohne Rang und Titel, der begehrtesten Ärztin von Boston den Kopf verdrehen könnte.«
»Es gibt nichts,
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