Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift
darauf, man sehnt sich nach nichts anderem. Und dann ist es so weit, man lässt den Kopf endlich in die Kissen sinken. Die reine Wonne, man schließt die Augen und dann, zack , ist es Morgen, und du hast genau das wieder vor dir, vor dem du fliehen wolltest.«
»Ich nicht«, sagte Ray. »Ich teile mir meine Arbeitszeit selber ein.«
Das brachte mich darauf, ihn zu fragen, was er außerhalb der Saison tat - wie jetzt, zum Beispiel.
»Es gibt immer noch Aufträge zu erledigen - Leute, die bei Veranstaltungen schon was gekauft haben und nachbestellen - und ich gehe in kleinere Lebensmittelläden und Fachgeschäfte.«
»Und was ist mit Gegenden, in denen es wärmer ist? Solche Veranstaltungen gibt es doch landesweit bestimmt das ganze Jahr über.«
»Denk doch mal nach. Kann ich mit ein paar Hundert Schachteln Pralinen im Auto in warmen Gegenden herumkutschieren? Chancenlos. Ich bräuchte zumindest einen Kühlwagen.«
»Kommt das nicht in Frage?«
Er grinste. »Versuchst du, mich loswerden?«
»Ich habe dich angerufen. Um genau zu sein, ich habe mir die Mühe gemacht, dich mit Hilfe Dritter ausfindig zu machen. Das kann man schwerlich als Versuch werten, dich loszuwerden.«
Ein Auge geschlossen, als handle es sich um eine äußerst delikate Angelegenheit, fragte Ray: »Kennst du denn sonst noch jemand, den du in die Kategorie ›Freund‹ einordnen würdest?«
Ich hub an mit meiner Bestandsaufnahme - Claire, meine Zimmergenossin aus dem ersten Jahr an der Uni; Laura, eine meiner Laborpartnerinnen aus Makroskopischer Anatomie; und natürlich meine Schwester Julie, die allerdings mit Sternchen, weil sie in Seattle wohnte -
Bei jedem Namen schüttelte Ray den Kopf. Er nahm mich bei der Hand wie ein Schülerlotse. »Komm mit«, sagte er. »Wir bringen das in Ordnung.«
Ich versuchte, Widerstand zu leisten, die Bodenhaftung auf meinem Teppich nicht zu verlieren, doch meine Sohlen hatten schon längst kein Profil mehr. Dann öffnete er die Tür, und ich folgte ihm, ließ mich von irgendetwas hinreißen - war es akademische Neugier oder kindische Hoffnung? -, als sei Ray im Besitz eines Wissens, das mir fehlte. Als gäbe es am Ende des Flurs oder hinter einem Vorhang Heilung für mich: eine frühere Freundin oder einen neuen Job oder das große Los - Lebenshilfe à la Fernseh-Talkshow.
Aber er führte mich nur bis zur nächsten Wohnungstür. Und läutete. Ein Mann erschien, in der Hand eine medizinische Fachzeitschrift, im Gesicht einen Ausdruck, den ich kannte - grantig und arrogant.
»Ist die Dame des Hauses da?«, fragte Ray.
»Es gibt keine Dame des Hauses«, sagte der Mann und schloss die Tür - durchaus sanft, aber mit genau der Schroffheit, die ich brauchte, um das Fünkchen Abenteuergeist zu ersticken, das in mir aufgeflackert war.
»Na komm«, sagte Ray. »Lass dich nicht entmutigen. Irgendwo auf diesem Flur wird es auch ein freundliches Gesicht geben.«
»Das ist es also! Wir klappern jetzt alle Wohnungen ab, bis wir eine Freundin für mich gefunden haben?«
»So sehe ich das ganz und gar nicht.«
Während ich mich in meinem eigenen Türrahmen so unsichtbar wie möglich machte, klopfte er an die Tür, die meiner direkt gegenüberlag. Eine Frauenstimme rief: »Wer ist da?«, und Ray antwortete: »Ihr neuer Nachbar.«
»Welcher neue Nachbar?«
»Von gegenüber.«
Darauf die Stimme: »Tut mir Leid! Mein neuer Nachbar ist eine Frau. Guter Trick. Ich ruf jetzt den Wachdienst an.«
Ray deutete auf mich, dann auf die Tür, ruhig, fast matt, als täte er tagein, tagaus nichts anderes, als Frauen davon abzubringen, die Polizei zu holen.
Ich trat näher und sprach zu dem lackiertem Aluminium: »Hm. Hallo? Ich bin Ihre neue Nachbarin auf 11G. Das eben war mein Freund, der meint, er tut mir einen Gefallen, wenn er mich von Tür zu Tür schleppt, damit ich neue Leute kennen lerne. Entschuldigung.«
»Wie heißen Sie?«
»Alice Thrift.«
Ich hörte das Rumpeln eines Türriegels, und die Tür ging auf. Meine neue Nachbarin lachte zynisch. Sie hatte stacheliges Haar, die Spitzen gelb wie Cheddar-Käse, der Ansatz dunkel, aber so, dass man merkte, es war Absicht. Viele kleine Ringe zierten beide Ohrläppchen. Sie streckte die rechte Hand aus und schüttelte die meine herzhaft. »Sylvie Schwartz«, sagte sie. »Tut mir Leid wegen der Paranoia.«
Ray winkte. »Ich bin der Vermittler. Schön, Sie kennen zu lernen, Sylvie. Wohnen Sie allein.«
»Na, das möchte ich hoffen. Ich meine, auf 55
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