Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift
verstohlenen Blicken für ihren Beitrag zu meiner endgültigen Versetzung auf die Eselsbank. Die Einzige, die Mitleid mit mir zu haben schien, war die - schmerzgeplagte - Patientin. Es handelte sich um eine Studentin mit Blinddarmentzündung. Das sollte sich jedoch erst später herausstellen, da die Diagnose durch das ungewöhnlich bewegliche Caecum erschwert wurde. Noch vor einer Woche hätte ich die Notoperation mitverfolgen dürfen, das übeltäterische Organ womöglich selbst abschnippeln oder die Patientin wieder zunähen dürfen. Heute wurde ich nicht einmal aufgefordert, mich für den OP fertig zu machen.
Es war ein veritabler Härtetest: Wie lange würde ich meinen Kopf hoch tragen können, angesichts der Kampagne zur Befreiung der Chirurgie von Alice Thrift? Das sind die Momente, in denen die wahre Heldin die Zähne zusammenbeißt und ungeahnte Kräfte in sich entdeckt. Unerschrockenheit, Scharfblick, Ehrgeiz. Da schüttelt sie die Faust und - begleitet vom Gepiepse des Piepsers und vom Geschnauze des gottgleichen Vorgesetzten - gelobt, sich zu bessern und all ihren Verleumdern und Peinigern eine Lehre zu erteilen.
Nicht so Alice Thrift. Ich hatte meinen Charakter irgendwo in diesem Krankenhaus verloren, wo ihn gewisse Vorgesetzte unter ihren Absätzen zerrieben und mit dem Orkan ihrer Tobsuchtsanfälle in alle Himmelsrichtungen zerstreut hatten. Alles, was ich brauchte, war ein Mensch, ein einziger Mensch, der zu mir sagte: »Es ist keine Frage der Fähigkeit, der natürlichen Begabung, des Intellekts, der Hände oder einer Gottesgabe. Es ist einzig und allein Übungs- und Vertrauenssache. Nächstes Mal machst du’s richtig. Und wenn’s nicht der nächste Fall oder die nächste Naht ist, dann die übernächste. Hat dir das noch niemand gesagt? - ›Anderen zuschauen. Selber machen. Anderen beibringen.‹ Medizinischer Leitspruch? Untertitel der Chirurgie?«
Wenn ich zurückblicke, frage ich mich, wie mir dieser Aphorismus entgehen konnte. Vielleicht war das etwas, das eine Generation von Krankenhausärzten nach Dienstschluss an die nachfolgende weitergab, bei Pizza und Bier, an Orten, zu denen ich keinen Zutritt hatte. Als Ray Russo nämlich mit seinem »Übung macht den Meister« daherkam, ignorierte ich diesen Rat als naiven Gemeinplatz eines Menschen, dessen Wohl und Wehe von den Verkaufszahlen seiner Schokoladeprodukte abhing - nicht von der Last der Verantwortung für Leben und Tod.
Obwohl ich zu einer durchaus christlichen Zeit, 20.30 Uhr, anrief, weckte ich Dr. Shaw. Ich entschuldigte mich für die Störung und die Tatsache, dass ich im Besitz seiner Privatnummer war.
»Jackie hat Ihnen die Nummer gegeben und daran die Erwartung geknüpft, dass Sie sich ihrer auch bedienen. Und jetzt erzählen Sie mir, wie’s Ihnen geht und wie Ihr Montag - heute ist doch Montag? - war.«
Auf einmal kam ich mir lächerlich vor und war um die passenden Worte verlegen. Die Impertinenz, mit der ich einen Geburtshelfer aus dem Schlaf riss, der kurz vor der Pensionierung stand, und den ich darüber hinaus gerade erst kennen gelernt hatte, die Tatsache, dass ich ihn überhaupt ins Vertrauen gezogen hatte, ließen mich an meinem Verstand zweifeln.
»Ich höre«, ließ er mich wissen.
»Es kommt mir so dumm vor - Sie wegen solcher Trivialitäten zu Hause zu belästigen. Wahrscheinlich versucht gerade jemand, Sie zu erreichen.«
»Ich habe keine Bereitschaft«, sagte er. »Erzählen Sie mir, was los ist.«
»Na gut. Ich habe also, wie versprochen, diesen Mann angerufen, mit dem ich mich - höchst selten - getroffen, den ich aber größtenteils ignoriert habe. Ein paar Minuten später war er bei mir.«
»Offensichtlich froh, von Ihnen zu hören«, sagte Henry, erfolglos ein Gähnen unterdrückend.
»Aber jetzt kommt das, worüber ich mit jemandem sprechen muss: Ich habe eine große Dummheit begangen.«
»Höchstwahrscheinlich nicht.«
»Ich habe ihn durch meine neue Wohnung geführt, in der es absolut nichts zu sehen gibt, doch aus irgendeinem Grund geriet er angesichts meiner Badewanne in Verzückung.«
»Erzählen Sie weiter.«
»Er plädierte sehr überzeugend für einen kleinen Luxus, den er sich vor dem Abschied noch gönnen wollte.«
»Welchen Luxus?«
»Ein Bad in meiner Wanne. Er hat nur eine Duschkabine.«
»Und diese Dummheit. Könnte das vielleicht ungeschützter Verkehr gewesen sein?«
»Wo denken Sie hin!«
»Gut. Das wollte ich wissen. Was wollen Sie wissen?«
»Na ja, vielleicht
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