Der dreizehnte Apostel
Posten, Miss Dantan?« O’Hanrahan ging durchs Zimmer und sammelte seine Unterlagen ein. »Sie wissen, wie schwer es sein wird, einen Job zu bekommen, wenn Sie einmal mit Ihrer wertlosen Doktorarbeit fertig sind? Gott hat Ihnen Verstand genug gegeben, damit Ihnen klar ist, daß das Matthäusevangelium Ihnen den Weg ebnen wird, selbst als meine Assistentin. Und es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, daß wir möglicherweise reich und berühmt werden.«
Und möglicherweise bringt man uns um, dachte Lucy. Sie sahen einander einen Augenblick an.
»Aber keiner dieser Träume wird sich erfüllen«, fuhr O’Hanrahan fort, »wenn wir zu einem Komitee von zwanzig Leuten gehören, die daran arbeiten,
okay? Jetzt, wo ich den Matthias habe«, er klopfte auf den Koffer, »sind wir de facto die wichtigsten Leute geworden, die an diesem Projekt arbeiten. Jetzt kann man uns schlecht sagen, wir sollen nach Hause verschwinden, nicht wahr?«
Lucy empfand mehrere Dinge zugleich. Loyalität mit dem Rabbi durchzuckte sie … aber zum Teufel, er stand in Verbindung mit dem Mann im billigen Anzug. Vielleicht konnte man niemandem trauen, vielleicht war O’Hanrahans Manöver wirklich die Rettung des Matthiasevangeliums. Bisher war ihre Rolle angenehm dekorativ gewesen, sie hatte sich zurücklehnen und die Reise genießen können. Aber jetzt wurde es ernst. Einen Augenblick spürte sie noch Heimweh, wollte zurück in die sicheren Bahnen Chicagos, dorthin, wo die Dinge einfacher und für sie vorbestimmt waren …
Sie sah auf und begegnete O’Hanrahans Blick – einem zärtlichen Blick. Gott, dachte sie, zu allem anderen kommt noch, daß er mich braucht. Wenn ich ihn jetzt im Stich lasse, wird es wirklich aus sein mit ihm. »Ich … ich gehe und packe«, sagte sie automatisch und stand auf, um zu der Verbindungstür zwischen ihren Zimmern zu gehen.
»Ich wusste , daß Sie erkennen würden, wo Ihre eigenen Interessen liegen.« Aber es ging überhaupt nicht um ihre eigenen Interessen! In diesem Augenblick lag ihrer Motivation nichts ferner als ein akademischer Posten oder ihr Name, der vielleicht in tausend künftigen Fußnoten auftauchte. Sie ging in ihr Zimmer und sah eine Vase mit einem Dutzend langstieliger roter Rosen auf ihrem Tisch. O’Hanrahan steckte hinter ihr den Kopf durch die Tür. »Ach ja, die«, sagte er und lachte. »Stellen Sie sich vor: Letzte Woche habe ich die Dinger für Sie bestellt, und ausgerechnet heute, am Tag der Abreise, kommen sie daher.«
»Sir, sie sind schön.«
Lucy machte die Karte auf und las:
Und alles, wo sie während ihrer Unreinheit liegt, sei unrein; und auch alles, wo sie sitzt, sei unrein. Und wer ihr Bett berührt, der wasche seine Kleider und bade sich in Wasser und sei unrein bis zum Abend.
Shemoth 15,20-21
»Was für eine reizend ausgedrückte Empfindung«, sagte sie, da sie den Witz nicht kapierte.
»Sehen Sie?« O’Hanrahan hielt die Kalenderseite in seinem Adressbuch hoch. »Hier habe ich es aufgeschrieben: Lucys Periode. Sei nett zu Lucy. Verstehen Sie? Ich will keine unerfreulichen Geschichten mehr wie damals in Florenz. Durch das ganze Jahr 1990 habe ich für diese Tage aufgeschrieben: Sei nett zu Lucy. Deswegen der Menstruationsverweis aus dem Buch Exodus auf der Karte … Ich muss das Reisebüro anrufen.« Lucy Schloss die Tür hinter ihm und legte sich aufs Bett. Es würde hart sein, einen Mann im Stich zu lassen, der für jeden Tag ihrer Periode aufschrieb: Sei nett zu Lucy. Dabei hatte sie die Periode noch nicht gehabt! Lieber Herrgott im Himmel.
Lucy war wie gelähmt, als die Erkenntnis, was eine ausgebliebene Periode bedeutete, sie mit voller Wucht überwältigte. Das kann nicht sein. Das kann nicht passieren. Natürlich kann es sein, natürlich kann es passieren. Und als die ganze Entsetzlichkeit dieses Gedankens sich in ihrem Bewusstsein ausbreitete und Besitz von ihm nahm, legte sie die Hände aufs Gesicht und schloss die Augen.
Nein! Oh, was für ein Wahnsinn. Was bist du für ein dämliches Mädchen, sagte sie sich. Und Gabriel sagte, sie sehe anders aus, habe ein Leuchten auf den Wangen – sie zitterte. Heilige Muttergottes, voll der Gnaden, ich bitte dich … Aber ihr Gebet verebbte und wirkte kraftlos auf sie.
(Vielleicht deshalb, weil es Wochen her ist, daß du wirklich richtig mit Uns gesprochen hast. Ist es nicht so, Meine Liebe?)
Ich bin schwanger, sagte sie zu sich selbst, um den Gedanken auszuprobieren. In der Sekunde, als ich zum erstenmal daran
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