Der dreizehnte Apostel
gedacht habe, habe ich schon gewusst , daß es wahr ist. Der Sündenfall! Und ein Fall ist es wirklich, dachte sie; so fühlt es sich an, wenn man ins Bodenlose sinkt; es ist, als hinge man an zehn Fingern über einem Abgrund, dann an fünf, dann nur noch an einem und dann der freie Fall in die Hoffnungslosigkeit, bei dem selbst die Körperfunktionen enden, der Herzschlag, das Atmen. Ich bin von einem Leben im Licht in eine unvorhergesehene Verdammnis gefallen, wo ich künftig von meiner Sünde bestimmt werde, wo mein Leben völlig neu geformt werden wird.
» … ja, das ist richtig«, hörte sie O’Hanrahan im anderen Zimmer mit dem Reisebüro telefonieren.
Sie beruhigte sich: Es hat keinen Sinn, hysterisch zu werden. Die Periode kann sich einfach verspätet haben! Vielleicht ist ja alles in Ordnung. »Äh ja … zwei Plätze erster Klasse, wenn möglich links. Im Raucher teil des Busses, bitte.« O’Hanrahan lachte. »Ach ja, natürlich, wo habe ich bloß meinen Kopf? Wir sind im Nahen Osten. Jeder raucht!« Er lachte wieder. »Also Miss, Sie waren so hilfsbereit, vielleicht könnten Sie mir bei einem anderen Problem auch helfen. Ich habe ein amerikanisches Medikament auf Rezept, das ich mir hier in Israel nachkaufen muss , weil meine Reise länger gedauert hat, als ich dachte. Wo könnte ich …« Eine Pause, dann bekam er die gewünschte Auskunft. Dieser alte Mann da drüben, dachte Lucy, läuft vor dem Ende des Lebens davon. Er will das Geheimnis des Matthias gar nicht lösen – nicht wirklich. Er will eine Herausforderung, die ihn immer wieder lockt und die sich nie fassen lässt , so daß er nie sterben kann. Und ich bin ein Teil dieser hoffnungslosen Illusion. Ich, die davonlaufen will vor dem Leben, das beginnt, hier in mir drin, das wachsen wird auf Kosten dessen, was einmal Lucy Dantan war, die nun verdammt ist. Okay, beschloss sie und stand gefasst auf, um zu packen. Ich laufe mit dir, alter Mann. Die Wüsteneien sind weit, diese Wildnis der Sünde, vierzig Jahre lang gut genug für die widerspenstigen Hebräer. Führe mich, alter Scharlatan, der mit goldenen Kälbern handelt, Patrick Virgil O’Hanrahan!
(Geht in die Wüste, Patrick und Lucy. Die Wüsten des Nahen Ostens sind Unser alter Tummelplatz, wo Wir immer zu Unseren Kindern gesprochen haben. Ihr fliegt in Unsere Arme.)
FÜNF
Nilus! O großer Fluss aus unsrer Mutter Erde;
Aus ihrem äthiopischen Schoß dein Schwall
Rollt über Ägyptens Flanken hin,
Bis in das Große Meer aus üppigem Delta
Er sich befreit ergießt!
1.
Gerade dir werde ich nicht sagen müssen, in welcher berühmten Dichtung man diese poetische Perle findet!
2.
Ich hätte auf immer im entzückenden Alexandrien verweilen mögen, wie ich bereits sagte, doch zu meiner geschwinden Abreise waren mir deine Freunde, die Römer, behilflich, die in unser judäisches Mazedonien1 einfielen, um zu plündern, zu schwelgen und zu zerstören und Leute, die sie verdächtigten, mit den jüdischen Rebellen zu sympathisieren, Nasiräer und Nazaräer, denen sie nicht trauten, festzunehmen. Tatsächlich hat es seit den Tagen des Cestius Gallus für die Juden keinen wahren Frieden mehr gegeben.2 Es ist wirklich ein Jammer, daß du, wenn du das liest, nur darauf bedacht sein wirst, die Handlungsweise der Römer zu rechtfertigen, daß du dir das Gehirn zermartern wirst, um irgendeinen Grund anführen zu können, der dir erlaubt, s ie freizusprechen! Selbst Roms größter Mann, Julius Caesar, der lächelnd mit Säulen und Gedenktafeln so tat, als wollte er den Juden Wertschätzung erweisen, hatte dann in Alexandrien doch nichts Eiligeres zu tun, als das Museion, die große Bibliothek, niederzubrennen – welch klareren Beweis könnte man verlangen für die unmenschlichen Neigungen der Römer?3
3.
Und so verließ ich denn im siebenten Jahr der schändlichen Regierung deines geliebten Vespasian [76 n.Chr.] Alexandrien mit der Karawane, bei der Duldul ibn-Waswasah mich untergebracht hatte. Ich hatte Geld, meine Reisekosten zu bestreiten, von ihm angenommen und mich bereit erklärt, seine Briefe in Elephantine zuzustellen. Die Römer hatten im ganzen Delta Schrecken verbreitet, ohne jedoch Ordnung zu schaffen, so daß Wegelagerer und Räuber überall freie Hand hatten. Schon am zweiten Tag unserer Reise überfiel uns eine Schar von Beduinen, die uns alle Wertsachen abnahm, auch meine Geldbörse, deren Verlust ich als den aller meiner Habe lauthals beklagte, welcher
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