Der dreizehnte Apostel
herausgestellt gesehen.«
Lucy lächelte vorsichtig, unsicher, ob das ein Witz sein sollte. »Hier ist die besagte Zeitschrift.« Dr. Renaldo zog einen schmalen geisteswissenschaftlichen Band aus dem Papierstapel, der vor ihm lag. »Seien Sie doch so freundlich, und lesen Sie die Titel der Beiträge in diesem Quartal laut vor«, fügte er hinzu und reichte Lucy den Band. Lucy beugte sich vor und las: »Die Parusie im altenglischen Physiologus. Der mittelcornische Beunans Meriasek und Überbleibsel des Ar tusromans . Theorien über Genesis B nach Linie 441 …«
»Erwachsene Männer, die ihr Leben diesem erbärmlichen Gegenstand widmen«, unterbrach er sie heiter. »Es ist ein Gerücht im Umlauf, daß die Fakultät Angelsächsisch als Voraussetzung für den Bakkalaureus in Englischer Literatur abschaffen will.«
Lucy konnte nicht erkennen, ob diese Aussicht Dr. Renaldo glücklich machte oder nicht.
»Natürlich ist das unerhört«, fuhr er fort. »Ich musste diese unerträglich nutzlose Sprache lernen, und ich finde es nur fair, daß jeder andere genauso leiden muss ; ich verabscheue den Gedanken, daß künftigen Generationen alles in den Schoß fallen soll. Ich habe das Fach vor allem deshalb als Spezialgebiet gewählt, um sicher zu sein, eine Stelle zu bekommen. Alle Colleges sind gezwungen, einen Dozenten für Angelsächsisch einzustellen. Ich hätte nie einen Posten bekommen, wenn ich mir Fachkenntnis in meiner ersten und größten Liebe angeeignet hätte.«
»Und die wäre, Sir?«
»Lateinische Oden der späten Stuart-Zeit.«
Das einfache schwarze Telefon aus den 30er Jahren auf seinem Schreibtisch klingelte.
»Oh, Miss Dantan, könnten Sie viellei cht range hen?« »Ich?« »Bitte.« Lucy nahm den Hörer ab. Es war jemand auf der
Suche nach Dr. Renaldo, die Zusammenkunft im Gemeinschaftsraum der Fellows sollte beginnen, und man wartete auf ihn. »Ja«, antwortete Lucy, »ich sehe nach, wo er ist …«
»Ich bin nicht hier«, formte der Gesuchte mit den Lippen. »Nein, er ist nicht in seinem Büro«, erklärte Lucy. »Nein, ich bin ganz sicher. Was ich hier tue? Äh, auf Dr. Renaldo warten. Ja. Bye-bye.« Dr. Renal-do sah sie begeistert an, als sie den Hörer auflegte. »Gut gemacht! Da ich nun in Ihrer Schuld stehe, sollte ich Ihnen wohl einen Tee anbieten.«
»Das wäre sehr nett, Sir.« Lucy, die in diesem düsteren Zimmer ebenso fröstelte wie draußen, nahm gern eine Tasse englischen Tee an. Englischer Tee in einem Zimmer in Oxford, von einem richtigen englischen Dozenten gekocht. Zu ihrer Enttäuschung sah sie, daß Dr. Renaldo Instantpulver in eine teefleckige Tasse löffelte. »Milch?«
»Ja, bitte.«
Dr. Renaldo beugte sich über einen kleinen Kühlschrank, holte einen Half-Pint-Karton Milch heraus und roch daran. Er zuckte zusammen. »Tut mir leid,
die scheint hinüber.«
»Macht nichts«, tröstete Lucy.
Dr. Renaldo behalf sich mit Milchpulver, das er einrührte, zusammen mit braunem Zucker, der an dem Zuckerlöffel klebte, den er offenbar oft zum Umrühren hernahm. »Ich nehme nicht an«, meinte er dann, stolz auf sein Werk, »daß Sie lieber einen Sherry gehabt hätten?«
»Nein, wirklich nicht«, bestätigte Lucy, die nach dem vergangenen Abend bereit war, dem Alkohol abzuschwören.
»Ich glaube, das ist das einzige, das mich an diesem abscheulichen Nachmittag vor dem Abgrund bewahrt«, sagte ihr Gastgeber, holte eine Flasche hervor und wischte den Staub von dem alten Etikett. »Die Wärme Andalusiens«, schwärmte er dann unerwartet. Wieder läutete das Telefon. »Soll ich?« fragte Lucy. »Ich wäre Ihnen unendlich dankbar.« Lucy hob ab und beantwortete höflich Fragen wie vorhin. » … Nein, Sir, ich habe ihn heute in unserem Kurs …«
»Tutorenkurs«, soufflierte Dr. Renaldo.
» … in unserem Tutorenkurs erwartet. Ich sitze jetzt gerade hier mit meinem Aufsatz«, fügte sie hinzu und wurde von Dr. Renaldo mit stummem Beifallklatschen belohnt. Die andere Stimme sagte etwas. »Ja, ich weiß, daß für Studenten das Semester vorbei ist«, gab Lucy zu und erinnerte sich an Ursula, »aber meine Leistungen waren dieses Semester schlecht, deswegen hat Dr. Renaldo diese Arbeit von mir verlangt …« Dr. Rena ldo legte die Hände über die zu sammengepressten Lippen, begeistert von ihrer Erfindung.
Lucy legte die Hand über die Sprechmuschel und flüsterte: »Es ist Dr. Blackwelder; ich soll Ihnen sagen, er weiß, daß Sie hier sitzen, und sie fangen mit der Sitzung nicht an,
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