Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der dreizehnte Apostel

Der dreizehnte Apostel

Titel: Der dreizehnte Apostel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilton Barnhardt
Vom Netzwerk:
jungenhaften, etwas zu langen, blonden Haarschopf und einem schief geschnittenen Pony, der ihm in die Stirn hing. Lucy hatte den Verdacht, daß diese Mähne künstlich aufgehellt war. Sie registrierte mit einem raschen Blick sein dunkelgrünes, zerknittertes Smokingjackett mit Monogramm auf der Brusttasche, sein hellblaues Hemd ohne Krawatte, die alten blauen Jeans, den dicken Ledergürtel mit riesiger Schnalle.
    »Also«, forderte er sie streng auf. »Ihren Aufsatz, bitte.«
    »Meinen Aufsatz?«
    Er lachte spöttisch, als er sich auf seinem quietschenden Drehstuhl herumdrehte und nach seiner bereits brennenden Pfeife griff. »Ach, was ist es denn diesmal, hm? Drüsenfieber – diese altehrwürdige Ausrede? Sterbende Verwandte? Trennung vom Freund?« Und mit genüsslich verschluckten britischen Konsonanten: »Rissige Lippen vielleicht? Ich habe all diese Entschuldigungen schon gehört – und die meisten von Ihnen, Miss Campbell-Miers.«
    »Äh, entschuldigen Sie, ich …«
    »Jetzt enttäuschen Sie mich bloß nicht. Tränen, Miss Campbell-Miers! Tränen will ich sehen! Unter Ihrer besten Darbietung kommen Sie nicht davon!«
    »Äh, Dr. Renaldo, ich glaube, Sie verwechseln mich …«
    »Was?« quiekte er. »Oh, wirklich, ich muss schon sagen: ein amerikanischer Akzent! Sie übertreffen sich selbst! Ich nehme an, Sie wollen hier ein Ge dächtnisverlust-Szenario durchspielen?«
    »Ich heiße Lucy Dantan, Sir, und ich bin wirklich keine von Ihren Studentinnen.«
    Er schürzte die Lippen. »Nein?«
    »Nein.«
    »Sind Sie ganz sicher, daß Sie keine von meinen Erstsemestern sind?«
    »Ja, Sir.«
    Er zog an seiner Pfeife und dachte darüber nach. » Umso besser für Sie.« Noch ein Zug. »Nein, Sie se hen eigentlich nicht aus wie Miss Campbell-Miers, stimmt. Natürlich tue ich mein Bestes, um meine Studenten so selten wie möglich zu sehen, also verzeihen Sie mir … Ich nehme nicht an, daß Sie es erwägen, meine Erstsemester in Angelsächsisch zu unterrichten?«
    »Ich glaube nicht, daß ich dafür qualifiziert wäre, Sir.«
    »Das hat die Englische Fakultät bisher kaum von etwas abgehalten.« Er sah ehrlich niedergeschlagen aus, versuchte aber seufzend über seine Verzweiflung hinwegzukommen. Für einen Moment herrschte ein seltsames Schweigen zwischen ihnen, das unmöglich zu brechen schien. Dann fragte er endlich: »Darf ich fragen, was Sie denn in dieses grässliche Zimmer bringt?«
    »Oh, ich will Ihnen nicht viel von Ihrer wertvollen Zeit stehlen, Sir …«
    »Wertvoll?! Sie haben ja keine Ahnung.«
    » … aber ich dachte, ob ich Ihnen wohl ein oder zwei Fragen über ein angelsächsisches Versepos stellen könnte. Ich bin als Gast von der Universität Chicago hier.« Plötzlich fühlte sich Lucy unsicher und schmückte ihren Status ein wenig aus. »Ich mache hier einige Forschungsarbeiten für die Chicagoer Universität, und ich verspreche Ihnen, daß ich Sie nicht länger als fünf Minuten stören werde.«
    »Oh, keine Eile. Bitte, bleiben Sie stundenlang. Sie müssen mich vor einer todlangweiligen Sitzung im Gemeinschaftsraum der Fellows bewahren.« Der Dozent zog schadenfroh an seiner Pfeife. »Ihr Besuch kommt tatsächlich gerade zur rechten Zeit. Über welches Epos wollen wir sprechen?«
    »Über Cynewulfs Andreas.«
    Renaldo gestattete sich beinahe ein Lächeln. »Erst einmal: Cynewulf hat den Andreas nicht geschrieben.
    Wir können uns kaum vorstellen, daß Cynewulf so etwas verfasst hat, wie?« Lucy lächelte in stummer Zustimmung.
    »Ich bin überrascht, daß Sie ein Buch gefunden haben, das es fertigbringt, den Andreas Cynewulf zuzuschreiben. Dieser Irrtum ist seit Jahrhunderten korrigiert.« Dr. Renaldo verdrehte resigniert die Augen. »Obwohl es einen alten Trottel gibt – natürlich in Cambridge –, der eine Monographie veröffentlicht hat, die trotz unanfechtbarer Beweise und entgegen der weltweiten Meinung immer noch das Gegenteil behauptet.« Lucy wühlte in ihrer Tasche nach dem kleinen Notizbuch. »Äh, es war ein sehr altes Buch, Sir. Von 1623 …«
    »Ja, der Catherwood-Abdruck des Vercelli-Manuskripts«, erklärte er vergnügt. »Von einer Abschrift des Vercelli-Textes, die wir nicht mehr besitzen, voller Fehler, sehr alt, möglicherweise authentisch. Meine Güte, wie sind Sie denn darauf gestoßen? Ich selbst habe eine kleine, ungelesene Monographie im Anglo-Saxon Quarterly Register, Winter 1972, veröffentlicht. Sie haben sie zweifellos in der Universitätsbibliothek in Chicago groß

Weitere Kostenlose Bücher