Der dreizehnte Apostel
vorbeikommt und mich davon abhält, diesen grässlichen Aufsatz zu schreiben. Ich habe eine Aufsatzkrise im Hinblick auf D. H. Lawrence. Wenn man sich allerdings ansieht, wofür Lawrence das Wort ›Krise‹ benutzt, sollte ich mein Problem besser anders nennen, meinst du nicht?«
»Ich dachte, das Semester ist vorbei«, Lucy konnte Ihre Verwunderung nicht verbergen.
»Na ja, ich war ein unartiges Mädchen, deswegen lassen sie mich noch bleiben und Strafarbeiten schreiben. Zwei Jahre lang hatte ich eine Heidenangst, sie würden mich relegieren, aber mir ist klargeworden, daß sie sich etwas viel Schlimmeres für mich ausgedacht haben, indem sie mich behalten.«
Lucy musterte Ursulas verrücktes Zimmer: orientalische Teppiche, eine Marmorbüste mit einem kunstvollen edwardianischen Hut auf dem Kopf, Nippes aus der ganzen Welt, Sphinxen aus Onyx, eine kleine afrikanische Maske, ein kitschiger Schiefer Turm von Pisa aus Porzellan, eine beeindruckende Sammlung leerer Champagnerflaschen auf dem Fenstersims. »Das war Semesterschluß in Trinity«, erklärte Ursula stolz. Überall verstreut lagen Schleier, Schals, prächtige Kleidungsstücke und bauschige Kissen auf dem obligatorischen Wohnheimmobiliar herum; auf der Kommode standen zahlreiche glanzvolle Fotos, die Ursula mit verschiedenen jungen Männern im Smoking zeigten. Ursula ließ sich auf den Boden plumpsen, zwischen Papiere und Sekundärliteratur, und Gott sei Dank, wie Lucy zu ihrer Erleichterung bemerkte, lagen da auch die Monarch notes, Inhaltsangaben der Weltliteratur. »Ich will dich nicht lange stören, Ursula, aber mit wem kann ich über angelsächsische Dichtung reden?«
»Ach Gott, in Braithwaite könnten dir die meisten helfen. Das ist die Tragik des Ortes.« Ursula reckte sich hinauf zu ihrem Schreibtisch und riss ohne Gewissensbisse ein Blatt aus einem ihrer Lehrbücher. »Hier«, meinte sie, während sie etwas daraufkritzelte, »Dr. Renaldo, Eingang X. Unser Dozent für Angelsächsisch. Er wird überglücklich sein, dir helfen zu können. Wir, seine Schützlinge, wollen weiß Gott so wenig wie möglich mit ihm und Angelsächsisch zu tun haben.«
Mittlerweile hatte es zu regnen begonnen. Der Wind attackierte Lucy aus allen Richtungen und wehte ihr das kalte Nieseln ins Gesicht. Sie senkte den Kopf und ging stoisch weiter, bis sie zu dem Eingang kam. Eine Reihe handgemalter Namensschilder teilte mit, daß Dr. Renaldo in Zimmer 5 zu finden sei. Sie stieg die knarzende, jahrhundertealte Holztreppe hinauf, vorbei an Studentenzimmern, aus denen der Lärm unidentifizierbarer britischer Popgruppen drang. Sie fand Zimmer 5 und klopfte. Kein Lebenszeichen.
Lucy klopfte erneut und setzte sich schließlich auf die Treppe, um ein wenig zu warten. Einen Augenblick später kam eine Studentin in einem riesigen Bademantel die Treppe herunter und ging gähnend an Lucy vorbei zu einem der Zimmer; offensichtlich war sie jetzt um halb fünf Uhr nachmittags gerade aufgestanden. Lucy amüsierte sich bei dem Gedanken an eine amerikanische Universität, die man nach dem Oxforder System umgewandelt hatte: Studenten schlafzimmer , Fakultätsbüros und die Räume der Professoren – alles in einem Haus. Es würde höchstens eine Woche dauern, bis die Revolution ausbräche.
Lucy hörte, daß sich in Dr. Renaldos Büro etwas rührte. Die Tür ging ungefähr einen Zentimeter weit auf, und ein stahlblaues Auge spähte heraus. »Was wollen Sie?«
»Dr. Renaldo?«
»Hat man Sie vom Gemeinschaftsraum hergeschickt?«
»Dem Gemeinschaftsraum?«
»Oh, warten Sie, ich weiß, wer Sie sind. Es ist wohl doch besser, wenn Sie hereinkommen. Rasch, rasch …« Der Mann machte die Tür ganz auf und scheuchte Lucy hinein. Sie wurde zu einem viktorianischen Sessel geführt, dessen Polsterung längst durchgesessen war. Dr. Renaldo zog die Tür hinter sich zu und hastete an seinen großen Eichenholzschreibtisch, während Lucy das Zimmer musterte: dunkel getäfelte Wände, kein Licht außer dem elektrischen Feuer im Steinkamin und dem matten Tageslicht, das durch das alte Fenster mit seinen dicken Scheiben drang; eine Reihe gerahmter Stiche, ein verblichener Sepiaglobus und Stapel von Aufsätzen, dicken Wälzern und Taschenbüchern, vergilbt von jahrzehntelang aufgesogenem Pfeifenrauch. Sie fühlte sich wie in einem Museum.
»Sie sind gekommen, um die Suppe auszulöffeln, wie?« fragte Dr. Renaldo mit hoher, klarer Stimme. Er war ein großer, schlaksiger Mann um die Fünfzig, aber mit einem
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