Der dreizehnte Apostel
ein. »Sie müssen die Studentin sein, die Patricks Assistentin ist. Meine Güte, Sie müssen ja einige Abenteuer hinter sich haben. Ich dachte na türlich, Gabriel sei ein Junge .. «
»Oh«, korrigierte Lucy. »Gabriel war ein Junge. Ist ein Junge. Ich bin Lucy Dantan, Gabriels Nachfolgerin. Und Sie sind …«
»Catherine O’Hanrahan«, stellte die Frau sich lächelnd vor. Patri cks Schwester. Die Hexe von Wis consin!
»Aus Wisconsin«, murmelte Lucy.
»Ja, aus Madison. Ich war dort vor meiner Pensionierung Postangestellte. Vielleicht hat er Ihnen das erzählt.«
Diese Frau war kein alter Drachen, erkannte Lucy sofort, keine erbschleicherische, grabschänderische Verwandte. Wieder so eine unzutreffende Charakterisierung, die Dr. O’Hanrahan ihr geliefert hatte. Sie gingen zusammen in sein neues Zimmer, ein erfreulicherer Ort als zuvor, mit aufgezogenen Vorhängen – Sonnenlicht strömte durch das Fenster herein.
O’Hanrahan war wach. Benommen starrte er auf seine Schwester: »Gütiger Himmel, die müssen glauben, ich liege auf dem Sterbebett! Sie haben dich hergerufen, Cathy!«
Seine Schwester wurde reservierter. »Es war fast soweit, aber dieses Glück hatte ich nicht.« Lucy bemerkte, daß ihr irischer Akzent deutlicher wurde, sobald sie mit ihrem Bruder sprach; beide kehrten zur Sprache ihrer Kindheit zurück.
»Man hat Lucy deinen Privatvorrat anvertraut«, erklärte Miss O’Hanrahan.
Lucy begrüßte ihren Mentor mit der erhobenen Bourbonflasche. »Ich erwarte, daß nicht ein Tropfen von dem wertvollen Trank fehlt, Miss Dantan. Wenn ich aus diesem Schuppen hier rauskomme, werde ich Sie davon befreien.«
Miss O’Hanrahan sah Lucy entschuldigend an. »Wissen Sie, als er jung war, hat er sich nie so benommen. Ruhig und schüchtern war er, hat nie ein Wort gesagt …«
»Gütiger Gott, Frau, du ruinierst meinen Ruf! Bist du deswegen hierhergekommen?«
Sie stritten sich gutmütig über den Brief, und ob Patrick ihn bekommen hatte. Patrick leugnete es und beschuldigte Lucy, ihn verloren zu haben … »Habe ich nicht! Ich habe Ihnen den Brief im Zug gegeben …«
»Ruhe!« befahl O’Hanrahan. »Keine Intrigen gegen mich.«
Catherine genoss seine Notlage. »Da du dich selbst in den Ruin getrieben hast, hoffe ich, daß das, wohinter du hergejagt bist, die Sache wert war.«
O’Hanrahan, der röter im Gesicht war, fummelte an den Kissen herum, auf denen er lag. »Ich muss mich aufsetzen und dich richtig ansehen. Ich geb’s ungern zu, aber du siehst gut aus, Cathy – ich sehe aus wie Scheiße, mach dir nicht die Mühe, es mir zu sagen.«
»Ich benütze solche Ausdrücke nicht, aber sachlich stimmt die Beschreibung.«
»Ja, wenn du es unbedingt wissen musst , wir haben gefunden, was wir gesucht haben.« O’Hanrahan sprach aufgeregt wie ein Teenager. »Hör dir das an, Cath. Ein Evangelium aus dem 1. Jahrhundert, das früheste, das existiert, von einem der Apostel selbst.«
Lucy bemerkte jetzt das kleine Silberkreuz auf Miss O’Hanrahans marineblauer Bluse, ihre glatte Hand ohne Ehering. So wäre ich geworden, wenn ich in ihrer Generation geboren worden wäre, meinte Lucy. Welch ein Glück für mich, daß ich schwanger bin und bald aus dem Kreis der Katholiken vollkommen ausgestoßen sein werde. Lucy sah, daß Patrick seine Hand auf die seiner Schwester gelegt hatte, obwohl sie sich weiterhin zankten und absichtlich mißver standen . In dreißig, vierzig Jahren wird jemand von meiner Familie im Krankenhaus liegen, vermutete Lucy, vielleicht sogar ich selbst. Werden ältere Ausgaben von Nicholas, Cecilia, Kevin und Mary vorbeischauen, Genesungskarten schicken, ihre Pflicht tun? Unvorstellbar, daß wir je so ungezwungen und nahe sein könnten. Vielleicht muss jemand fast sterben, damit irische Familien vereint werden. Wie wenig Zusammenhalt haben wir Dantans …
Catherine O’Hanrahan musste ihr Auto aus der Dreißig-Minuten-Parkzone fahren, und ihr Bruder jubelte provozierend, als sie ging. Dann bellte er ihr noch einige Aufträge nach, die sie für ihn erledigen sollte, Toilettenartikel und Rasiersachen und Hustentropfen. »Und bring eine Flasche Master’s Mark mit, wenn du schon dabei bist.«
»Damit du dir die Zähne damit putzen kannst?« fragte sie ohne ein Lächeln.
»Damit ich mein Gebiss darin einlegen kann.«
Lucy und O’Hanrahan saßen einen Augenblick schweigend da, als Catherine das Zimmer verlassen hatte. Miss O’Hanrahan war nicht der Typ, der laut lachte oder ihrem Bruder
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