Der dreizehnte Apostel
offen ihre Zuneigung zeigte, aber ihre Routinestreitereien, seine Unverschämtheiten und ihr Stoizismus, ihr verstecktes Lächeln, das war die Währung ihrer Geschwistergefühle, das war ihre Liebe.
»So habe ich mir die Hexe von Wisconsin nicht vorgestellt.«
»Na gut, sie ist okay«, seufzte O’Hanrahan und faltete die Hände über dem Bauch. »Vielleicht, nur vielleicht, war ich ein klein wenig ungerecht.« Wieder Schweigen.
»Sie sind am Leben«, sagte Lucy schließlich. » Gestern Abend hat es nicht gut ausgesehen. Über vierzig Fieber. Sie waren im Delirium.«
»Das kann man wohl sagen. Ich hatte so verrückte Träume und Gespräche mit Gott … Luce, sehen Sie in meiner Mappe nach, ob der Behälter mit der falschen Schriftrolle darin ist.«
Lucy suchte zwischen den zerknitterten Notizzetteln herum. »Sie meinen dieses Pappding?«
»Ja. Das gefälschte äthiopische Evangelium aus dem 14. Jahrhundert, das ich aus der Vatikanbiblio thek gestohlen habe.«
»Es ist nicht da.«
O’Hanrahan lachte. »Dann habe ich das nicht geträumt. Pater Sergius vom Berg Athos war hier und hat es genommen.«
»Ein großer, alter Mann mit einem Bart bis hierher?« Lucy war der Mann auf dem Gang aufgefallen.
»Das ist er. Unser fanatischer Frater, zum Teil.«
»Unser anderer fanatischer Frater ist ein Mr. Kellner …«
»Matthias Kellner. Ist er auch hier?«
»Er war hier. Heute Morgen habe ich gesehen, wie dieser Mönch und Mr. Kellner einander über den Parkplatz nachgesaust sind. Ich habe den Rabbi gefragt, aber er hatte keine Erklärung dafür.«
»Ich werde Ihnen mit der Zeit alles erklären.« O’Hanrahan spürte Freude in sich aufwallen. Sein alter Freund Morey war hier; seine Schwester Lucy. Oh, lasse uns alle Frieden schließen und uns versöhnen. »Der Rabbi schläft seinen Jetlag aus, Sir«, teilte Lucy mit. »Er sagte, er werde gegen Mittag herkommen. Er hat gestern Abend ein hebräisches Gebet über Ihnen gebetet, also rechnen Sie damit, daß er Ihnen sagt, Jahwe sei der Eine Wahre Gott.«
»Jahwe ist der Eine Wahre Gott, ich werde es zugeben.« O’Hanrahan erinnerte sich an seine Halluzination von der feuchten dunklen Zelle in der Burg Krak, Morey mit dem aufgebrannten Davidstern, der ihn stumm und anklagend ansah – was für ein schrecklicher Traum! Aufgestiegen aus einem dunklen Winkel der Scham! Nein, er würde alles wiedergutmachen, sie würden sich wieder umarmen, und O’Hanrahan schwor, Rabbi Hersch seine Liebe zu zeigen. Dann sah O’Hanrahan Lucy an.
Was hatte er getan! Er hatte dieses nette amerikanische Mädchen über den halben Erdball geschleift … Waren sie wirklich in England gewesen, bei Sturm in einem Boot vor Nordirland, waren sie in Florenz den Mafiosi entschlüpft, mit diesem Blödmann Stavros in Griechenland herumgefahren, in der West Bank von palästinensischen Rowdys gejagt worden, dann Kairo, dann durch die Wüste des Sudan, eine Bruchlandung in Äthiopien …
»Es wird ein bisschen langweilig, wie?« fragte sie, als hätte sie seine Gedanken erraten. »Jetzt, wo wir zurück in den USA sind.«
»Ich weiß nicht, warum Sie das sagen … Ein Krieg mit dem Irak in Aussicht, CIA-Komplotte, die Endzeit, und jede Minute droht eine Entrückung. Dieses Land versteht es, einen zu unterhalten. Haben Sie Ihre Eltern angerufen?«
»Ich bin verstoßen. Heute Morgen gab es Geheul und Zähneknirschen … Daß ich keinen Respekt vor ihnen habe und meine Mutter krank geworden ist … Mein Vater will nicht mit mir sprechen, was ehrlich gesagt ein Zustand ist, den ich bevorzuge.« Eine Welle von Übelkeit überkam Lucy und das sehnsüchtige Bedürfnis, die Wahrheit über ihre vermutliche Schwangerschaft zu sagen, O’Hanrahan alles zu beichten.
»Das Evangelium ist etwa zu einem Viertel übersetzt«, sagte O’Hanrahan. »Jetzt, wo ich am Leben bin
– und wer weiß, wann ich wieder krank werde –, werde ich der berühmteste Mensch in den klassischen Wissenschaften und in der Theologie sein. Ich widerrufe alle früheren Behauptungen über eitle alte Männer; für die Titelseite der Times werde ich mir ein Toupet kaufen. Ha! Können Sie sich vorstellen, wie verzweifelt die Typen in Chicago sein werden? Shaughnesy, der Heuchler, unser Anti-Vorsitzender! Oh, würde Gott mir doch erlauben, ihre Gesichter zu sehen, wenn …«
(Patrick!)
Ja, ich weiß, ich weiß. Ich wollte nur hören, wie das klingt, wenn ich noch einmal die Blaskapelle schmettern lasse. Ich weiß, was ich tun muss – was
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