Der dritte Berg
nötigen zwanzig oder dreißig Meter unbeobachtet zurücklegen. In dem Gebüsch wühle ich mich an etwas entlang, das einem kleinen Pfad gleichkommt. Bis ich mittendrin auf eine kleine Lichtung stoße. Nun ja, man ist niemals gefeit gegen das Unerwartete. Und Bengalen bleibt seinen Traditionen treu. Nur ist das, was ich hier jetzt vor mir sehe, nicht für den Export bestimmt: Papaver somniferum! Rosarot, weißrot, violett, eine Augenweide nicht nur für den Morphinisten. Auf vierzig, fünfzig gut versteckten, besonnten Quadratmetern sorgt der Gärtner für den Eigenbedarf vor. Schlafmohn könnte man beinahe auf die imaginäre Kandidatenliste für Soma setzen. Ich muss achtgeben, dem Gärtner seine Ernte nicht zu zertrampeln, presse mich vorsichtig an eine leuchtend rote Bougainvillea. Und, wer weiß, vielleicht erntet er auch noch für Mukherjees Ehefrau, die Herrin von Haus und Garten, sonst könnte er das alles wohl nicht wagen. Mukherjee selber ist bestimmt keiner, der weiß, was in seinem ausgedehnten Garten vorgeht. Die ziehen da ihr Opium, damit der Gärtner den sympathischen grauen Chef-Butler nicht erschlägt, wenn der ihm wieder mal auf die Pelle rückt; und weil seine Herrin, nachdem sie das Haus in vishnuitischem, Navagraha-, Sufi-, Newari-, Delhi-17th-Century-, Jodhpuri-, Japan-18th-Century-Shogun-, in viktorianischem und Louis- XIV -Stil dekorieren und umdekorieren hat lassen und immer noch an ihren Depressionen leidet, sich auf Papaver somniferum verlegte, oder besser auf die Himmel, die dieser verspricht.
Ich schleiche mich an dem Mohnfeld vorbei und wische mir den Schweiß von der Stirn. Total schade nur, dass diese Himmel für hundert Millionen Chinesen einmal die Hölle bedeuteten. Hand aufs Herz – ich bin aufgekratzt von meinem großartigen Vormittag und habe eine eher sarkastische Minute, was auch sonst, wenn man vorhat, was ich vorhabe – und drücke mich jetzt durch ein spinnenverseuchtes, vier Meter hohes Buschungetüm, gerade hing nur Zentimeter vor meinen Augen eine riesige hellgrüne Spinne in ihrem Netz, der Körper lang wie mein Zeigefinger, und ähnlich geformt, von ihren Beinen gar nicht zu reden, also Hand aufs Herz, denn mein tiefstes Bedauern gilt jedem stolzen kolumbianisch-mexikanischen Drogenkartell, dessen Geschäfte eine lächerliche Kinderei sind im Vergleich zu dem gigantischen, jahrzehntelangen Drogenhandel, den die Briten einst abzogen. In Bengalen zwangen sie die Bauern, statt unnützem Reis – dessen Handelsspanne, well , geringer war als die des Opiums – Schlafmohn anzubauen, the Invisible Hand called for it, it’s a dreadful hand, though , und dann ab damit nach China; doch waren um des freien Handels willen zwei Disziplinarkriege nötig, weil es dem Kaiser von China, ridiküle Gestalt, nicht gefiel, dass man sein gesamtes Land in Opiumrausch versetzte. Der Kaiser ließ sich überraschend umstimmen. Und am Ende, ein scharfkantiges Aststück schrammt an meinem rechten Auge vorbei, da würde auch das Cortison nicht mehr helfen, am Ende war wohl ein Viertel aller Chinesen süchtig, war Hongkong britisch, China eine Quasikolonie, Bengalen wieder einmal hungrig und die Adam Smith’sche Unsichtbare Hand des Kapitalismus, ein furchterregender Gott, in dessen Aura ich in Mukherjees Haus gleich noch einmal eintauchen werde – ja, was war sie, konnte sie das wollen? Nun aber mal ehrlich, meine lieben, sperrigen, burmesischen Bougainvilleae, kann diese Hand denn mit etwas unzufrieden sein, das der MARKT (gepriesen sei Sein Name!) hervorbringt?
Endlich breche ich schwitzend, zerkratzt und zerzaust aus den Büschen; ich befinde mich nun fast auf der Höhe von Mukherjees Terrasse. Ein paar Schritte über den Rasen, dann verschwinde ich kurz vor der Hausecke im toten Winkel einer weiteren Kamera. Dort entledige ich mich meiner Schuhe und schleiche ein Stück an der Hausmauer entlang. Ich denke an Mukherjees Ehefrau, sofern pässlich, an seine Kinder oder Enkel, und an den Rest der Dienerschaft. An all die Leute, die ich jetzt auf keinen Fall treffen will. Schließlich trete ich seelenruhig auf die Terrasse. Und durch die Terrassentür von Mukherjees Arbeitszimmer schlüpfe ich ganz frech ins Haus. Sie steht noch einen Spaltbreit offen. Da hat ein Diener wohl geschlampt. Von dem dunklen Büro Mukherjees öffne ich die Tür in eine große Eingangshalle, um die eine Galerie läuft. Vollkommene Stille. Christians Zimmer wird sich im oberen Stockwerk befinden. Also die weiße
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