Der dritte Berg
Marmortreppe hinauf und oben nach rechts in Richtung jener Zimmer, deren Fenster sich auf den Teich hin öffnen. Mukherjee hat seinem Gast bestimmt nichts Geringeres angeboten und Christian hat nichts Geringeres erwartet. Auf dieser Hausseite befinden sich vier Zimmer. Bei keinem davon kann es sich um das Schlafzimmer der Mukherjees handeln, denn das würde in die andere, weniger spektakuläre, aber ruhigere Richtung weisen. Noch immer lässt sich niemand blicken. Ich entspanne mich und öffne rasch die erste Tür. Ein Badezimmer. Die zweite lasse ich sein, Christian wohnt nicht neben einem Bad. Und die dritte Tür führt in ein Zimmer in desolatem Zustand. Der Hand jeglicher Dienstbrigaden entzogen. Christians Koffer liegt geöffnet auf dem Boden, Hosen und Hemden verunzieren das Bett, Schuhe und Socken wild auf dem Boden. Unter all dem Kram der Büstenhalter, den Sophia an unserem ersten Abend in Kalonagar getragen hat. Ich notiere seine Anwesenheit emotionslos. Der Schreibtisch ist mit Papier jeder Art übersät, das auch den Boden um den Schreibtisch bedeckt. Kein Notebook. Inmitten dieses papierenen Chaos liegen bloß eine großformatige Fotografie, ein Buch und zwei dunkelblau gebundene Notizbücher.
Ich begutachte das dreißig oder vierzig Jahre alte Foto näher. Es zeigt einen kleinen Fluss, im Vordergrund eine Bank aus Steinen und etwas Sand. Darauf eine große Feuerstelle. Linker und rechter Hand – großteils außerhalb des Bilds – steigen dschungelbewachsene Hänge steil nach oben, von denen dichtes Astwerk, Baumrhododendren und auch ein Felsvorsprung in das Tal hineinragen und der Sonne nur wenig Gelegenheit geben, es zu erhellen. Im Hintergrund ist zwischen Blattwerk ein riesiger, alles andere überragender Baum zu sehen. Offenbar eine Deodarzeder. Aus ihrer Richtung kommend nähert sich ein undeutlich sichtbarer Mann in heller Kleidung. Er trägt angegrautes, langes Haar, Vollbart, hat ein dunkles Tuch um die Schultern gelegt und wirkt so entspannt und gleichmütig, dass die Kamera Schwierigkeiten hatte, ihn auf ihren Film zu bannen. Im linken Vordergrund des Bilds hockt ein weiterer Mann (ein Inder wie der erste), er ist jung und etwas beleibt, und sein Körper wird von der Linse noch etwas in die Breite gezogen. Sein Gesicht ist nur im Profil zu sehen, da er den Kopf gesenkt hält und sich mit seiner Ausrüstung beschäftigt.
Nicht nur wegen dieses Fotos weiß ich sogleich, dass ich am Ziel bin.
Halb unter Papier verborgen liegt ein rot gebundenes Buch. Ich befreie es von den Blättern und nehme es zur Hand, eine sogleich erregte, flatternde Hand. Denn es handelt sich um den rotledernen Oktavband des neunten Buches des Rigveda. Frisch eingeflogen aus Christians Haus in Wien. Ich schlage es auf und blättere. Dieselben Fähnchen. Dieselben Einlegeblätter mit handgeschriebenem Sanskrit zwischen Hymne 89 und 90. Christian hat vor seiner Indienreise sogar noch einen Abstecher nach Wien-Hütteldorf gemacht, Stunden nach meinem Einbruch in sein Haus. Er hat das Buch zum Kongressabend mitgenommen und vor aller Augen damit angegeben. Hat Sanskrithymnen gelesen, die niemand verstehen konnte. Ich gehe wieder zu den Einlegeblättern, die überschrieben sind mit
Handschrift auf Palmblatt,
Rigveda, Buch 9,
mit Kommentar von Virachara Bhatta
(Kommentar aus Mitte d. 19. Jhdts.)
Bibliothek von Pandit Himprasad Geomli, Kathmandu,
Katalog No. 217
Dieses Buch, obwohl von unbekannter Bedeutung, liegt wie ein wertvoller, schwerer Schatz in meinen Händen. Und in Wien habe ich es fast achtlos zur Seite gelegt. Mit dem Buch in der Hand gehe ich jetzt zur Tür, öffne sie und werfe einen Blick hinaus. Niemand. Ich schließe die Tür wieder und versperre sie mit dem im Schloss steckenden Schlüssel.
Abermals lege ich den rotledernen Band hin und wühle mich eine Viertelstunde lang durch all die herumliegenden Blätter und Unterlagen auf dem Schreibtisch und auf dem Boden. Für die Notizbücher will ich mir am Ende noch ausreichend Zeit nehmen. Dann sortiere ich das Interessanteste aus und sichte diesen Teil meiner Beute:
Visitenkarten von einem italienischen Restaurant mit dem Namen La Caverna , einem Buchladen und einem Outdoor-Store, alle in der Independence Road gelegen, der größten Einkaufsstraße Kalonagars; auf die Restaurantkarte, die ganz oben liegt, ist eine Zahl gekritzelt: 17.30;
ein kleines Foto eines grotesk fetten Mannes, der, obwohl das Gesicht undeutlich zu sehen ist, nur dieser S.R.
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