Der dritte Schimpanse
indogermanischen Sprachen der wichtigste Gegenstand der Sprachgeschichtsforschung, doch auch Archäologie und Geschichte befassen sich mit ihnen. Von den Europäern, die seit 1492 an der zweiten Phase der indogermanischen Expansion beteiligt waren, kennen wir nicht nur Wortschatz und Grammatik, sondern auch die Häfen, von denen ihre Schiffe ausliefen, die Zeitpunkte der Abreise, die Namen der Anführer und die Gründe für ihren Erfolg als Eroberer. Doch will man begreifen, was in der ersten Phase geschah, muß man nach einem Volk suchen, über dessen Sprache und Kultur sich – trotz aller Eroberungen und der Grundsteinlegung für die heute vorherrschenden Kulturen – der Mantel der fernen schriftlosen Vergangenheit gelegt hat. Die Suche gleicht einem Krimirätsel, bei dessen Lö-sung eine hinter der Geheimwand eines buddhistischen Klosters entdeckte Sprache und eine unerklärlicherweise auf der Leinenhülle einer ägyptischen Mumie erhaltene italische Sprache eine Rolle spielen.
Ich nehme es nicht übel, wenn Sie das indogermanische Rätsel auf den ersten Blick für unlösbar halten. Ist es nicht per definitionem unmöglich, die indogermanische Grundsprache zu studieren, wo doch die Schrift zu ihrer Zeit noch nicht erfunden war ? Wie würden wir Skelette oder Töpferwaren der ersten Indogermanen, selbst wenn wir sie fänden, überhaupt erkennen? Die Skelette und Keramiken der im Zentrum Europas lebenden heutigen Ungarn sind so typisch europäisch, wie Gulasch ungarisch ist. Archäologen würden bei der Ausgrabung einer ungarischen Stadt in einem späteren Jahrtausend nie daraufkommen, daß die Ungarn eine nichtindogermanische Sprache sprechen, sofern keine schriftlichen Belege dafür gefunden würden. Selbst wenn es uns auf irgendeine Weise gelänge, Ort und Zeit der ersten Indogermanen zu bestimmen, bliebe fraglich, wie wir daraus ableiten sollten, was ihrer Sprache zu so großem Erfolg verhalf.
Bemerkenswerterweise gelang es Linguisten, Antworten auf diese Fragen aus den Einzelsprachen selbst zu gewinnen. Ich werde erläutern, warum wir so sicher sind, daß ihre heutige Verbreitung Ausdruck einer einst über Europa und Westasien rollenden sprachlichen Dampfwalze ist. Sodann werde ich versuchen zu beurteilen, wann und wo die Grundsprache gesprochen wurde und wie es dazu kam, daß sie einen so großen Teil der Welt erobern konnte.
Woraus können wir schließen, daß die heutigen indogermanischen Sprachen an die Stelle anderer, inzwischen abhanden gekommener Sprachen traten? Ich spreche nicht von der zweiten Phase, also den letzten 500 Jahren, in deren Verlauf Englisch und Spanisch die meisten einheimischen Sprachen Nord- und Südamerikas und Australiens verdrängten. Diese neuzeitliche Expansion beruhte offensichtlich auf der Überlegenheit, die den Europäern ihre Gewehre, Krankheitserreger, Eisengeräte und politischen Organisationsformen verschafften. Mir geht es vielmehr um die erste Phase der Verdrängung älterer europäischer und westasiatischer durch indogermanische Sprachen, die sich noch vor Einführung der Schrift in jenen Gebieten vollzogen haben muß.
Abb. 7 : Die Karte zeigt die Sprachenverbreitung um 1492, kurz vor der Entdeckung der Neuen Welt durch Europäer. Es muß noch andere indogermanische Sprachzweige gegeben haben, die zu diesem Zeitpunkt bereits untergegangen waren. Umfangreiche schriftliche Aufzeichnungen existieren jedoch nur in Sprachen des tocharischen und anatolischen Zweigs (zu letzterem gehörte auch die Sprache der Hethiter), deren Heimatgebiete schon vor 1492 von Sprechern von Turk- und mongolischen Sprachen erobert wurden.
Die Karte in Abb. 7 zeigt die Verbreitungsgebiete der verbliebenen indogermanischen Sprachzweige um 1492, kurz bevor die Spanier mit der Reise des Kolumbus zum Sprung über den Atlantik ansetzten. Drei dieser Sprachzweige sind den meisten Europäern und Amerikanern besonders vertraut : die germanischen Sprachen (Englisch, Deutsch usw.), die romanischen Sprachen (Französisch, Spanisch usw.) und die slawischen Sprachen(Russisch usw.), die alle aus zwölf bis 16 heute noch lebendigen Einzelsprachen bestehen und von 300 bis 500 Millionen Menschen gesprochen werden. Der größ-te Zweig sind jedoch die rund 90 indoiranischen Sprachen mit fast 700 Millionen Sprechern zwischen Iran und Indien (zu ihnen zählt auch Romani, die Sprache der Zigeuner). Relativ kleine überlebende Zweige mit zwei bis
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