Der dritte Schimpanse
selbst ausgedacht ist.
Kapitel 16
In Schwarzweiß
Während der Geburtstag einer Nation fast überall Anlaß zum Feiern ist, hatten die Australier 1988, im 200. Jahr nach dem Beginn der Besiedlung ihres Kontinents, ganz besonderen Grund dazu. Nur selten hatten Neusiedler mit so großen Schwierigkeiten zu kämpfen wie jene, die 1788 an der Stelle, wo heute Sydney liegt, an Land gingen. Australien war damals noch Terra Incognita : Die Neuankömmlinge hatten keine Vorstellung davon, was sie erwartete und wie sie überleben sollten. Von ihrer Heimat trennte sie eine achtmonatige Seereise, auf der sie fast 25 000 Kilometer zurückgelegt hatten. Zweieinhalb hungrige Jahre vergingen, bis Schiffe aus England neue Vorräte brachten. Viele der Siedler waren Sträflinge, die das 18. Jahrhundert bereits von seiner brutalsten Seite kennengelernt hatten. Trotz dieses harten Anfangs überlebten die Siedler, schufen sich bescheidenen Wohlstand, füllten einen ganzen Kontinent, errichteten eine Demokratie und prägten einen eigenen Nationalcharakter. Da ist es kein Wunder, daß die Australier mit besonderem Stolz auf die Gründung ihrer Nation zurückblickten.
Doch die Fröhlichkeit der Feiern wurde durch Proteste getrübt. Die weißen Siedler waren nicht die ersten Australier gewesen. Bereits vor 50 000 Jahren wurde Australien von den Vorfahren derjenigen besiedelt, die heute gemeinhin als Aborigines – in Australien selbst auch als »blacks« – bezeichnet werden. Im Laufe der englischen Besiedlung starben die meisten dieser Ureinwohner durch die Hand der Siedler oder aus anderen Gründen, was einige ihrer Nachfahren 200 Jahre später zum Protestieren statt zum Feiern veranlaßte. Denn bei den Feierlichkeiten ging es ja im Grunde darum, wie Australien weiß wurde. Dagegen werde ich am Anfang dieses Kapitels schildern, wie Australien aufh örte, schwarz zu sein, und wie beherzt die englischen Siedler Genozid verübten.
Damit sich weiße Australier nicht auf den Schlips getreten fühlen, sollte ich vielleicht klarstellen, daß ich ihre Vorväter nicht beschuldige, einzigartige Schrecklichkeiten begangen zu haben. Vielmehr beschäftige ich mich mit der Auslöschung der Aborigines gerade deshalb, weil daran ganz und gar nichts Einzigartiges war : Es handelt sich nur um ein gründlich dokumentiertes Beispiel für ein Phänomen, dessen Häufigkeit von wenigen zur Kenntnis genommen wird. Während die meisten von uns mit dem Wort »Genozid« wahrscheinlich als erstes die Massenmorde in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern verbinden, stellten diese zahlenmäßig noch nicht einmal den größten Genozid unseres Jahrhunderts dar. Die Tasmanier und Hunderte anderer Völker waren die modernen Zielscheiben erfolgreicher kleinerer Ausrottungskampagnen. Zahlreiche Völker in der ganzen Welt sind die potentiellen nächsten Opfer.
Doch Genozid ist ein so trauriges Kapitel, daß wir am liebsten gar nicht damit konfrontiert werden oder doch wenigstens glauben möchten, daß nette Menschen damit nichts zu tun haben, sondern nur Bösewichte wie die Nazis. Doch unser selbstverhängtes Denkverbot bleibt nicht ohne Folgen: Wenig wurde getan, um den zahlreichen Völkermorden seit dem Zweiten Weltkrieg Einhalt zu gebieten, und wir sind auch kaum darüber informiert, wo das nächste Gemetzel stattfinden könnte. Neben der Zerstörung der Umwelt stellt unser Hang zum Genozid, gepaart mit Atomwaffen, heute die größte Gefahr für das Überleben der Menschheit dar und droht allen Fortschritt über Nacht umzukehren.
Trotz des zunehmenden Interesses von Psychologen, Biologen und Laien bleiben grundlegende Fragen zum Thema Genozid umstritten. Töten Tiere regelmäßig Angehörige der eigenen Art, oder ist das eine menschliche Erfindung ohne Parallele im Tierreich ? War Genozid in der Geschichte der Menschheit eine seltene Abweichung von der Normalität oder war er häufig genug, um ihn neben Kunst und Sprache zu den typisch menschlichen Merkmalen zu zählen? Ist er auf dem Vormarsch, da moderne Waffen Genozid auf Knopfdruck ermöglichen und dadurch instinktive psychologische Hemmschwellen herabsetzen ? Warum haben so viele Fälle so wenig Aufmerksamkeit erregt? Sind Menschen, die an Genozid mitwirken, abnorme Individuen, oder handelt es sich um normale Menschen, die nur in außergewöhnliche Situationen geraten sind?
Um Genozid zu verstehen, müssen wir biologische, ethische und
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