Der dritte Schimpanse
Massaker jedoch nur der Höhepunkt einer Serie von Morden und Gegenmorden. Wird eine Provokation mit massiver Vergeltung beantwortet, die in keinem Verhältnis zur Provokation steht, wie entscheiden wir dann, wann aus »bloßer« Vergeltung Genozid wird? In der algerischen Stadt Sétif entwickelten sich im Mai 1945 aus Feiern zum Ende des Zweiten Weltkriegs Rassenunruhen, bei denen 103 Franzosen von Algeriern getötet wurden. Die brutale französische Reaktion bestand aus Luft angriffen auf 44 Dörfer, der Beschießung mehrerer Küstenstädte durch einen Kreuzer, Vergeltungsmassaker durch zivile Kommandos und wahllos auf Algerier schießende Soldaten. Nach französischen Angaben belief sich die Zahl der algerischen Toten auf 1.500, nach algerischen auf 50 000. Die Interpretationen dieses Ereignisses deckten sich ebensowenig wie die Schätzungen der Totenzahl : Für die Franzosen handelte es sich um die Niederschlagung einer Revolte, für die Algerier um ein Massaker mit Genozidcharakter.
Ebenso viele Schwierigkeiten wie die Definition von Genozid bereitet die Einteilung nach der Motivation. Auch wenn mehrere Motive zugleich im Spiel sein können, lassen sich doch vier grundlegende Typen unterscheiden. Bei den ersten beiden besteht ein realer Interessenkonflikt um Land oder Macht, der zuweilen in den Deckmantel einer Ideologie gehüllt wird. Bei den anderen beiden Typen ist ein solcher Konflikt sehr untergeordnet, und die Motivation speist sich weit überwiegend aus ideologischen oder psychologischen Quellen.
Das vielleicht häufigste Motiv für Genozid ergibt sich, wenn ein militärisch überlegenes Volk versucht, einem schwächeren das Land zu nehmen, dabei aber auf Widerstand stößt. Zu den unzähligen Fällen dieser Art zählt nicht nur die Ermordung der Tasmanier und australischen Aborigines durch weiße Australier, sondern auch die Ermordung von Indianern durch weiße Amerikaner, von Araukanern durch Argentinier und von Buschmännern und Hottentotten durch die Buren in Südafrika.
Ein weiteres häufiges Motiv resultiert aus einem langandauernden Machtkampf in einer pluralistischen Gesellschaft, der darin gipfelt, daß eine Gruppe eine Endlösung in der Tötung der anderen sucht. Beispiele für Fälle mit zwei ethnischen Gruppen sind die Tötung von Tutsi in Ruanda durch Hutu 1962–1963, von Hutu in Burundi durch Tutsi 1972–1973, von Serben durch Kroaten im Zweiten Weltkrieg, von Kroaten durch Serben bei Kriegsende – und erneut beim Auseinanderbrechen Jugoslawiens – und von Arabern in Sansibar durch Schwarze 1964. Doch Täter und Opfer können auch der gleichen ethnischen Gruppe angehören und sich nur in ihrer Weltanschauung unterscheiden. Das war beim größten bekannten Genozid der Geschichte der Fall, der im Zeitraum 1929–1939 etwa 20 Millionen und zwischen 1917 und 1959 sogar 66 Millionen Opfer gefordert haben dürfte – der von den russischen Kommunisten verübte Genozid an ihren politischen Gegnern, von denen viele ethnische Russen waren. Politische Massenmorde von ebenfalls erschreckendem Ausmaß sind die »Säuberungen« der Roten Khmer, denen in den siebziger Jahren über eine Million Kambodschaner zum Opfer fielen, und die Abschlachtung Hunderttausender Kommunisten in Indonesien zwischen 1965 und 1967.
Bei den zwei genannten Genozid-Motiven lassen sich die Opfer als erhebliches Hindernis für den Zugriff der Täter auf Land oder Macht beschreiben. Im entgegengesetzten Extremfall wird eine hilflose Minderheit Opfer einer Mehrheit, die sie für erlittene Frustrationen zum Sündenbock macht. Juden wurden im 14. Jahrhundert von Christen als Sündenböcke für die Beulenpest umgebracht, von Russen Anfang des 20. Jahrhunderts für die politischen Probleme des Landes, von Ukrainern nach dem Ersten Weltkrieg für die bolschewistische Gefahr und von den Nazis im Zweiten Weltkrieg für Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg. Als die US-Kavallerie 1890 bei Wounded Knee mehrere Hundert Sioux-Indianer mit Maschinengewehren niedermähte, nahmen die Soldaten verspätete Rache für den vernichtenden Gegenangriff der Sioux auf General Custers Streitmacht in der Schlacht am Little Big Horn 14 Jahre zuvor. Auf dem Höhepunkt des russischen Leidens unter der deutschen Invasion ordnete Stalin 1943–1944 die Ermordung bzw. Deportation von sechs ethnischen Minderheiten an, die als Sündenböcke dienten, der Balkaren, Tschetschenen, Krimtataren,
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