Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der dritte Schimpanse

Der dritte Schimpanse

Titel: Der dritte Schimpanse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
Vom Netzwerk:
Gewichtsverhältnisses von Mut­ter und Kind ist die Geburt beim Menschen außerge­wöhnlich schmerzhaft und gefährlich. Vor der Ausbrei­tung moderner medizinischer Methoden starben viele Frauen bei der Geburt – ein Schicksal, das mir nie von weiblichen Gorillas oder Schimpansen zu Ohren kam. Nachdem die Menschen genug Intelligenz besaßen, den Zusammenhang zwischen Koitus und Empfängnis zu begreifen, hätten Frauen während ihrer fruchtbaren Phase bewußt auf Geschlechtsverkehr verzichten kön­nen, um sich die Schmerzen und Gefahren bei der Ge­burt eines Kindes zu ersparen. Solche Frauen hätten je­doch weniger Nachkommen hinterlassen als Frauen, de­nen der Eisprung verborgen blieb. Wo also männliche Anthropologen im versteckten Eisprung eine List sahen, die Frauen für Männer entwickelten (erste und zweite Theorie), sieht Nancy Burley darin eine von Frauen zur Selbsttäuschung entwickelte List.
    Welche dieser sechs Theorien über die Evolution des ver­steckten Eisprungs mag wohl zutreffen ? Nicht nur sind Biologen darüber unterschiedlicher Meinung, sondern überhaupt hat die Frage erst in den letzten Jahren ernst­haftes Interesse gefunden. Sie ist ein Beispiel für die Pro­bleme, mit denen man es beim Aufspüren von Kausal­zusammenhängen in der Evolutionsbiologie zu tun hat – wie übrigens auch in der Geschichte, Psychologie und in vielen anderen Gebieten, in denen nicht einfach Variab­len verändert und Experimente unter kontrollierten Be­dingungen durchgeführt werden können. Mit Hilfe von Experimenten ließen sich Ursachen und Funktionen am überzeugendsten demonstrieren. Könnten wir ei­nen Menschenstamm schaffen, in dem die Frauen an ih­ren fruchtbaren Tagen sichtbare Zeichen der Koitusbe­reitschaft trügen, so könnten wir in aller Ruhe beobach­ten, ob hiermit die eheliche Kooperation am Ende wäre oder ob die Frauen ihr neues Wissen dazu nutzen wür­den, Schwangerschaften zu vermeiden. Da solche Expe­rimente nun einmal nicht möglich sind, können wir nie mit Bestimmtheit wissen, wie die menschliche Gesell­schaft heute aussähe, wenn es nicht zur Evolution des versteckten Eisprungs gekommen wäre.
    Ist es schon schwer genug, die Funktion von Vorgän­gen zu bestimmen, die sich heute vor unseren Augen ab­spielen – wieviel schwerer ist dann erst das gleiche Un­terfangen für die ferne Vergangenheit ! Wir wissen, daß menschliche Knochen und Werkzeuge vor Hundert­tausenden von Jahren, als sich der versteckte Eisprung vermutlich herausbildete, anders aussahen als heu­te. Wahrscheinlich unterschied sich auch die damalige menschliche Sexualität, einschließlich der Funktion des versteckten Eisprungs, von unserer heutigen, allerdings auf eine Weise, von der wir uns nur schwer ein Bild ma­chen können. Versuche, unsere Vergangenheit zu inter­pretieren, laufen ständig Gefahr, zu »Paläo-Poesie« aus­zuarten : erfundenen Geschichten, zu denen ein paar fossile Knochen den Anstoß geben und die eher persön­liche Vorurteile ausdrücken, als für die Vergangenheit Gültigkeit zu besitzen.
    Nachdem ich sechs plausible Theorien vorgestellt habe, bin ich es Ihnen nun wohl doch schuldig, wenigstens den Versuch einer Synthese zu wagen. Wieder stellt sich das Problem der Kausalität. Komplexe Phänomene wie der versteckte Eisprung werden nur selten von einem einzi­gen Faktor verursacht. Es wäre deshalb genauso töricht, nach einem einzigen Grund zu suchen, wie zu behaup­ten, der Erste Weltkrieg habe nur eine Ursache gehabt. Vielmehr gab es zwischen 1900 und 1914 eine Vielzahl weitgehend unabhängiger Faktoren, die den Kriegsaus­bruch begünstigten, während andere auf den Erhalt des Friedens hinwirkten. Der Krieg brach aus, als die ihn begünstigenden Faktoren überhand nahmen. Das ist je­doch keine Entschuldigung dafür, nun umgekehrt kom­plexe Phänomene mit einer endlosen Liste aller nur denkbaren Faktoren »erklären« zu wollen.
    Als ersten Schritt, um unsere Liste der sechs Theorien zu verkürzen, sollten wir erkennen, daß unabhängig da­von, welche Faktoren in grauer Vorzeit einmal zur Evo­lution des besonderen menschlichen Sexualverhaltens geführt haben mögen, dieses heute nicht mehr genau­so wäre, verliehen ihm nicht bestimmte Faktoren weiter einen Sinn. Dabei müssen die ursprünglichen Faktoren nicht mit den heute wirksamen identisch sein. Insbeson­dere die in der dritten, fünften und sechsten Theorie ge­nannten Faktoren scheinen heute keine Rolle mehr zu

Weitere Kostenlose Bücher