Der dritte Schimpanse
Gewichtsverhältnisses von Mutter und Kind ist die Geburt beim Menschen außergewöhnlich schmerzhaft und gefährlich. Vor der Ausbreitung moderner medizinischer Methoden starben viele Frauen bei der Geburt – ein Schicksal, das mir nie von weiblichen Gorillas oder Schimpansen zu Ohren kam. Nachdem die Menschen genug Intelligenz besaßen, den Zusammenhang zwischen Koitus und Empfängnis zu begreifen, hätten Frauen während ihrer fruchtbaren Phase bewußt auf Geschlechtsverkehr verzichten können, um sich die Schmerzen und Gefahren bei der Geburt eines Kindes zu ersparen. Solche Frauen hätten jedoch weniger Nachkommen hinterlassen als Frauen, denen der Eisprung verborgen blieb. Wo also männliche Anthropologen im versteckten Eisprung eine List sahen, die Frauen für Männer entwickelten (erste und zweite Theorie), sieht Nancy Burley darin eine von Frauen zur Selbsttäuschung entwickelte List.
Welche dieser sechs Theorien über die Evolution des versteckten Eisprungs mag wohl zutreffen ? Nicht nur sind Biologen darüber unterschiedlicher Meinung, sondern überhaupt hat die Frage erst in den letzten Jahren ernsthaftes Interesse gefunden. Sie ist ein Beispiel für die Probleme, mit denen man es beim Aufspüren von Kausalzusammenhängen in der Evolutionsbiologie zu tun hat – wie übrigens auch in der Geschichte, Psychologie und in vielen anderen Gebieten, in denen nicht einfach Variablen verändert und Experimente unter kontrollierten Bedingungen durchgeführt werden können. Mit Hilfe von Experimenten ließen sich Ursachen und Funktionen am überzeugendsten demonstrieren. Könnten wir einen Menschenstamm schaffen, in dem die Frauen an ihren fruchtbaren Tagen sichtbare Zeichen der Koitusbereitschaft trügen, so könnten wir in aller Ruhe beobachten, ob hiermit die eheliche Kooperation am Ende wäre oder ob die Frauen ihr neues Wissen dazu nutzen würden, Schwangerschaften zu vermeiden. Da solche Experimente nun einmal nicht möglich sind, können wir nie mit Bestimmtheit wissen, wie die menschliche Gesellschaft heute aussähe, wenn es nicht zur Evolution des versteckten Eisprungs gekommen wäre.
Ist es schon schwer genug, die Funktion von Vorgängen zu bestimmen, die sich heute vor unseren Augen abspielen – wieviel schwerer ist dann erst das gleiche Unterfangen für die ferne Vergangenheit ! Wir wissen, daß menschliche Knochen und Werkzeuge vor Hunderttausenden von Jahren, als sich der versteckte Eisprung vermutlich herausbildete, anders aussahen als heute. Wahrscheinlich unterschied sich auch die damalige menschliche Sexualität, einschließlich der Funktion des versteckten Eisprungs, von unserer heutigen, allerdings auf eine Weise, von der wir uns nur schwer ein Bild machen können. Versuche, unsere Vergangenheit zu interpretieren, laufen ständig Gefahr, zu »Paläo-Poesie« auszuarten : erfundenen Geschichten, zu denen ein paar fossile Knochen den Anstoß geben und die eher persönliche Vorurteile ausdrücken, als für die Vergangenheit Gültigkeit zu besitzen.
Nachdem ich sechs plausible Theorien vorgestellt habe, bin ich es Ihnen nun wohl doch schuldig, wenigstens den Versuch einer Synthese zu wagen. Wieder stellt sich das Problem der Kausalität. Komplexe Phänomene wie der versteckte Eisprung werden nur selten von einem einzigen Faktor verursacht. Es wäre deshalb genauso töricht, nach einem einzigen Grund zu suchen, wie zu behaupten, der Erste Weltkrieg habe nur eine Ursache gehabt. Vielmehr gab es zwischen 1900 und 1914 eine Vielzahl weitgehend unabhängiger Faktoren, die den Kriegsausbruch begünstigten, während andere auf den Erhalt des Friedens hinwirkten. Der Krieg brach aus, als die ihn begünstigenden Faktoren überhand nahmen. Das ist jedoch keine Entschuldigung dafür, nun umgekehrt komplexe Phänomene mit einer endlosen Liste aller nur denkbaren Faktoren »erklären« zu wollen.
Als ersten Schritt, um unsere Liste der sechs Theorien zu verkürzen, sollten wir erkennen, daß unabhängig davon, welche Faktoren in grauer Vorzeit einmal zur Evolution des besonderen menschlichen Sexualverhaltens geführt haben mögen, dieses heute nicht mehr genauso wäre, verliehen ihm nicht bestimmte Faktoren weiter einen Sinn. Dabei müssen die ursprünglichen Faktoren nicht mit den heute wirksamen identisch sein. Insbesondere die in der dritten, fünften und sechsten Theorie genannten Faktoren scheinen heute keine Rolle mehr zu
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