Der Dritte Zwilling.
kurvenreich; Jeannie dagegen dunkel und drahtig. Lisa besaß ein hübsches Gesicht mit bogenförmigem Mund und eine kleine, kesse, mit Sommersprossen gesprenkelte Nase. Die meisten Leute bezeichneten Jeannie als blendende Erscheinung, und Männer sagten ihr mitunter, daß sie attraktiv sei; aber als hübsch hatte sie noch niemand bezeichnet.
Als sie ihre verschwitzten Sportsachen auszogen, sagte Lisa: »Was ist mit deinem Vater? Von dem hast du noch nie erzählt.«
Jeannie seufzte. Es war die Frage, die sie schon als kleines Mädchen zu fürchten gelernt hatte; doch früher oder später wurde sie unweigerlich gestellt. Viele Jahre lang hatte sie gelogen und erklärt, ihr Daddy sei tot oder verschwunden oder wieder verheiratet und wäre nach Saudi-Arabien gegangen. In letzter Zeit jedoch hatte sie die Wahrheit gesagt. »Mein Vater ist im Gefängnis.«
»O Gott! Ich hätte nicht fragen sollen.«
»Schon gut. Er hat den größten Teil meines Lebens im Knast verbracht. Wegen Einbruchs. Er sitzt jetzt das dritte Mal.«
»Wie lange muß er denn hinter Gittern bleiben?«
»Ich weiß es nicht mehr. Spielt auch keine Rolle. Wenn er freikommt, wird er uns keine Hilfe sein. Er hat sich nie um uns gekümmert, und er wird auch in Zukunft nicht mehr damit anfangen.«
»Hatte er nie einen ordentlichen Beruf?«
»Nur wenn er ein Geschäft ausspionieren wollte. Er hat zwei, drei Wochen als Hausmeister, Türsteher oder Sicherheitsmann gearbeitet, bevor er den Laden ausgeraubt hat.«
Lisa schaute die Freundin verschmitzt an. »Interessierst du dich deshalb so sehr für die Frage, ob Kriminalität vererbbar ist?«
»Kann sein.«
»Oder auch nicht.« Lisa machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Amateurpsychologie kann ich sowieso nicht ausstehen.«
Sie gingen in den Duschraum. Jeannie brauchte länger, weil sie sich noch die Haare wusch. Sie war dankbar für Lisas Freundschaft. Lisa war seit gut einem Jahr an der Jones Falls; sie hatte Jeannie herumgeführt, als diese zu Beginn des Semesters an die Uni gekommen war. Jeannie arbeitete im Labor gern mit der freundlichen und verläßlichen Lisa zusammen, und nach Feierabend ging sie ebenso gern mit ihr aus - zumal sie Lisa alles anvertrauen konnte, was es auch sein mochte, ohne befürchten zu müssen, ihr einen Schock zu versetzen.
Jeannie rieb sich gerade Pflegespülung ins Haar, als sie seltsame Geräusche vernahm. Sie hielt inne und lauschte. Es hörte sich wie entsetztes Kreischen an.
Eine eiskalte Woge der Angst durchflutete Jeannie und ließ sie schaudern.
Plötzlich kam sie sich schrecklich verletzlich vor: nackt, naß, im Kellergeschoß.
Sie zögerte; dann kämmte sie sich rasch das Haar, bevor sie unter der Dusche hervortrat, um nachzusehen, was los war.
Jeannie war kaum aus dem Duschstrahl heraus, als ihr auch schon der Brandgeruch in die Nase stieg. Sie konnte nirgends ein Feuer sehen, doch unter der Decke wogten dichte Wolken schwarzen und grauen Rauches. Er schien durch die Lüftungsrohre in den Raum zu strömen.
Jeannie hatte Angst. Sie war noch nie in einem brennenden Gebäude gewesen.
Die weniger schreckhaften Mädchen schnappten sich ihre Taschen und eilten zur Tür. Andere wurden hysterisch, schrien sich mit schriller Stimme an und rannten ziellos umher. Irgendein Arschloch von
Sicherheitsmann, der sich ein gepunktetes Tuch vor Mund und Nase hielt, verschreckte die Mädchen noch mehr, indem er auf und ab stapfte, sie umherschubste und Befehle brüllte.
Jeannie war klar, daß sie nicht bleiben sollte, um sich anzuziehen, doch sie brachte es nicht über sich, das Gebäude nackt zu verlassen. Die Furcht strömte wie Eiswasser durch ihre Adern, aber sie zwang sich zur Ruhe. Sie eilte zu ihrem Spind. Lisa war nirgends zu sehen. Jeannie schnappte sich ihre Sachen, schlüpfte in die Jeans und zog sich ihr T-Shirt über den Kopf.
Es dauerte nur wenige Sekunden, doch in dieser kurzen Zeit leerte sich der Raum von Menschen und wurde von Rauch erfüllt. Jeannie konnte den Türeingang nicht mehr ausmachen, und sie begann zu husten. Der Gedanke, nicht atmen zu können, erfüllte sie mit Entsetzen. Du weißt, wo die Tür ist! sagte sie sich. Du mußt nur die Ruhe bewahren! Ihre Schlüssel und ihr Geld steckten in der Jeanstasche. Sie nahm ihren Tennisschläger, hielt den Atem an und ging rasch an den Spinden vorüber zum Ausgang.
Der Flur war von dichtem Rauch erfüllt, und Jeannies Augen tränten so sehr, daß sie fast blind war. Jetzt wünschte sie sich
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