Der Dritte Zwilling.
sehnlichst, sie wäre nackt aus dem Umkleideraum gestürmt und hätte auf diese Weise ein paar kostbare Sekunden gewonnen. Ihre Jeans konnten ihr schließlich nicht helfen, in diesen Rauchschwaden zu sehen oder zu atmen. Und für einen Toten spielte es keine Rolle, ob er nackt war.
Jeannie hielt ihre zitternde Hand an die Wand gepreßt, um ein Gefühl für die Richtung zu haben, als sie über den Flur stolperte, wobei sie noch immer den Atem anhielt. Sie rechnete damit, gegen andere Mädchen zu prallen, doch alle anderen schienen vor ihr ins Freie gelangt zu sein.
Als ihre Hand die Wand nicht mehr spürte, wußte Jeannie, daß sie in den kleinen Vorraum gelangt war, wenngleich sie nur Rauchwolken sehen konnte. Die Treppe mußte genau vor ihr liegen. Jeannie tastete sich weiter und stieß gegen den Cola-Automaten.
Befand sich die Treppe von hier aus rechts oder links? Links, sagte sich Jeannie und bewegte sich in diese Richtung, gelangte jedoch zur Tür der Männerumkleidekabine und erkannte, daß sie die falsche Wahl getroffen hatte.
Sie konnte den Atem nicht mehr anhalten. Mit einem Schluchzer sog sie die Luft ein, die dermaßen mit Rauch geschwängert war, daß Jeannie krampfhaft husten mußte. Mit taumelnden Schritten tastete sie sich an der Wand entlang in Gegenrichtung, von Hustenanfällen geschüttelt. Ihre Augen tränten; der Rauch brannte ihr in der Nase, und sie konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Mit jeder Faser ihres Seins sehnte Jeannie sich danach, frische Luft atmen zu können, wie sie es neunundzwanzig Jahre lang als selbstverständlich erachtet hatte. An der Wand tastete Jeannie sich bis zum Cola-Automaten vor und umrundete ihn.
Sie wußte, daß sie die Treppe gefunden hatte, als sie über die unterste Stufe stolperte. Sie ließ den Tennisschläger fallen, und er schlitterte davon und verschwand. Es war ein besonderer Schläger - mit ihm hatte sie das Turnier von Mayfair Lites gewonnen -, doch sie ließ ihn liegen und kroch auf Händen und Knien die Treppe hinauf.
Plötzlich wurde der Rauch dünner, als sie in die große Halle im Erdgeschoß gelangte. Sie konnte die Eingangstüren sehen; sie waren geöffnet. Draußen stand ein Sicherheitsmann. Er winkte ihr und rief: »Kommen Sie! Kommen Sie her!«
Keuchend und hustend taumelte Jeannie durch die Eingangshalle und hinaus an die herrliche frische Luft.
Zwei, drei Minuten stand sie auf den Stufen, würgend und nach Atem ringend, und hustete den Rauch aus ihren Lungen. Als ihre Atmung sich halbwegs normalisiert hatte, hörte sie in der Ferne die Sirene eines Rettungswagens. Sie schaute sich nach Lisa um, konnte sie aber nirgends entdecken.
Sie war doch bestimmt nicht mehr in der Sporthalle? Oder doch? Immer noch zittrig, bewegte Jeannie sich durch die Menge und ließ den Blick über die Gesichter schweifen. Jetzt, da sich alle außer Gefahr befanden, war von allen Seiten unsicheres, nervöses Lachen zu hören. Die meisten waren mehr oder weniger angezogen, so daß eine seltsam vertrauliche Atmosphäre herrschte. Jene, die ihre Taschen hatten retten können, reichten anderen, die nicht soviel Glück gehabt hatten, überschüssige Kleidungsstücke. Nackte Mädchen nahmen dankbar die schmutzigen, verschwitzten T-Shirts ihrer Freundinnen entgegen. Einige hatten sich nur Handtücher um den Leib geschlungen.
Lisa war nicht in der Menge. Mit wachsender Besorgnis kehrte Jeannie zu dem Wachmann an der Tür zurück. »Ich glaube, meine Freundin ist noch in der Halle«, sagte sie und hörte das Zittern der Furcht in der eigenen Stimme.
»Ich kann nicht nach ihr sehen«, entgegnete der Mann rasch.
»Was für ein tapferer Kerl!« sagte Jeannie mit scharfer Stimme. Sie wußte selbst nicht, was sie von dem Mann erwartete; aber sie hatte nicht damit gerechnet, daß er überhaupt keine Hilfe war.
Auf dem Gesicht des Mannes spiegelte sich Zorn. »Das ist deren Aufgabe«, sagte er und wies auf einen Löschzug, der die Straße herunterkam.
In Jeannies Innerem wuchs die Furcht um Lisas Leben, doch sie wußte nicht, was sie tun sollte. Ungeduldig und hilflos beobachtete sie, wie die Feuerwehrleute aus dem Löschzug stiegen und sich Atemmasken aufsetzten. Die Männer schienen sich so langsam zu bewegen, daß Jeannie sie am liebsten geschüttelt und angeschrien hätte: »Macht schnell! Macht schnell!« Ein weiterer Löschzug traf ein; dann ein weißes Polizeifahrzeug mit dem blauen und silbernen Streifen des Baltimore Police Department.
Während die
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