Der Dritte Zwilling.
betrachtete sie wachsam. »Sie verhalten sich ganz anders als der Officer, der Lisa gestern befragen wollte«, sagte sie.
Mish nickte. »Es tut mir aufrichtig leid, wie McHenty Sie und Lisa behandelt hat. Wie alle meine Kollegen wurde er zwar für die Befragung von Vergewaltigungsopfern ausgebildet, aber wie es scheint, hat er alles vergessen.
Die Sache ist mir peinlich. Ich schäme mich für die gesamte Polizeitruppe von Baltimore.«
»Es war, als würde ich noch einmal vergewaltigt«, sagte Lisa, die ihre Tränen nun nicht mehr zurückhalten konnte.
»Eine solche Dummheit wird nicht wieder vorkommen«, erklärte Mish, und ein Beiklang von Zorn schlich sich in ihre Stimme. »So etwas ist einer der Gründe dafür, daß so viele Vergewaltigungsfälle in irgendeinem Aktenschrank enden, mit der Aufschrift ›als unbegründet abgewiesen‹ Es hat nichts damit zu tun, daß Frauen bei Vergewaltigungen lügen. Es liegt daran, daß Frauen aufgrund unseres Rechtssystems dermaßen rücksichtslos behandelt werden, daß sie ihre Klage zurückziehen.«
»Das glaube ich auch«, sagte Jeannie. Sie gemahnte sich zur Vorsicht: Mish mochte wie eine Schwester reden, doch sie war und blieb ein Cop.
Mish nahm ein Kärtchen aus ihrer Handtasche. »Hier ist die Nummer einer Hilfsorganisation für die Opfer von Vergewaltigungen und Kindesmißbrauch«, sagte sie. »Früher oder später braucht jeder Betroffene Rat.«
Lisa nahm die Karte, sagte aber: »Im Moment möchte ich nur vergessen.«
Mish nickte. »Hören Sie auf mich, und legen Sie die Karte in eine Schublade. Mit Ihren Gefühlen wird es auf und ab gehen. Vielleicht kommt irgendwann der Zeitpunkt, da Sie so weit sind, daß Sie Hilfe in Anspruch nehmen wollen.«
»Also gut.«
Jeannie gelangte zu der Ansicht, daß Mish sich eine kleine Geste der Dankbarkeit verdient hatte. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee?« fragte sie.
»Ja, sehr gern.«
»Ich setz’ rasch frischen auf.« Jeannie erhob sich und setzte den Wasserkocher auf.
»Arbeiten Sie beide zusammen?« wollte Mish wissen.
»Ja«, sagte Jeannie. »Wir studieren Zwillinge.«
»Zwillinge?«
»Wir erforschen, inwieweit sie sich ähneln oder unterschiedlich sind. Dann versuchen wir herauszufinden, welche Unterschiede auf die Erbanlagen und welche auf die Erziehung zurückzuführen sind und warum.«
»Und welche Rolle spielen Sie dabei, Lisa?«
»Ich habe die Aufgabe, Zwillinge zu suchen, die dann von den Wissenschaftlern studiert werden.«
»Wie stellen Sie das an?«
»Ich nehme mir zuerst die Geburtsregister vor. In den meisten Bundesstaaten sind sie öffentlich zugänglich. Zwillingsgeburten machen ungefähr ein Prozent aller Geburten aus, also finden wir nach der Durchsicht von jeweils etwa hundert Geburtsurkunden ein Zwillingspaar. Auf den Urkunden sind Ort und Datum der Geburt vermerkt. Also machen wir eine Kopie und versuchen, die Zwillinge aufzuspüren. «
»Wie?«
»Wir haben jedes Telefonbuch Amerikas auf CD-ROM. Außerdem können wir die Unterlagen der Führerscheinstellen und einiger Kreditvermittlungsagenturen zu Hilfe nehmen.«
»Finden Sie die Zwillinge jedesmal?«
»Du liebe Güte, nein. Unsere Erfolgsquote hängt von ihrem Alter ab. Wir ermitteln neunzig Prozent der zehnjährigen Zwillingspaare, aber nur noch die Hälfte der achtzigjährigen. Bei älteren Personen ist es wahrscheinlicher, daß sie mehrere Male den Wohnort gewechselt oder ihre Namen geändert haben oder daß sie verstorben sind.«
Mish schaute Jeannie an. »Und Sie studieren diese Leute.«
»So ist es«, erwiderte Jeannie. »Allerdings nur eineiige Zwillinge, die getrennt aufgewachsen sind. Sie sind sehr viel schwieriger zu finden.« Sie schenkte Mish eine Tasse Kaffee ein und stellte die Kanne auf den Tisch. Falls diese Beamtin vorhatte, Lisa wegen der Vergewaltigung auszuquetschen, ließ sie sich sehr viel Zeit.
Mish nahm einen Schluck Kaffee; dann fragte sie Lisa: »Hat man Sie im Krankenhaus medizinisch behandelt?«
»Nein. Ich war nicht lange da.«
»Man hätte Ihnen die Morgen-danach-Pille anbieten müssen. Schließlich wollen Sie ja nicht schwanger werden.«
Lisa schauderte. »Natürlich nicht! Ich habe mich selbst schon gefragt, was ich tun soll.«
»Gehen Sie zu Ihrem Hausarzt. Er wird Ihnen die Pille bestimmt geben – es sei denn, er hat religiöse Vorbehalte. Einige katholische Ärzte haben in dieser Hinsicht Schwierigkeiten. Sollte das auch bei Ihrem Arzt der Fall sein, wird die Hilfsorganisation Ihnen einen
Weitere Kostenlose Bücher