Der Dritte Zwilling.
war zu heiß für eine Decke. Ricky warf sich aufs Bett. »Was hast du eigentlich an der Jones Falls gemacht?« fragte er.
»Man hat mich gefragt, ob ich an irgendwelchen Untersuchungen teilnehmen möchte. Psychologische Tests und so was.«
»Wie sind die denn auf dich gekommen?«
»Keine Ahnung. Mir wurde gesagt, daß ich ein Sonderfall wäre und daß man mir alles erklären würde, wenn es losgeht.«
»Warum hast du zugesagt? Für mich hört sich das wie die reinste Zeitverschwendung an.«
Steve hatte einen bestimmten Grund, an den Versuchen teilzunehmen, doch er hatte nicht die Absicht, Ricky davon zu erzählen. Seine Antwort war nur ein Teil der Wahrheit. »Neugier, würde ich sagen.
Fragst du dich nicht auch manchmal, wer du eigentlich bist? Was für ein Mensch du bist, und was du aus deinem Leben machen willst?«
»Ich möchte Top-Chirurg werden und mit Brusttransplantationen eine Million Dollar im Jahr verdienen. Ich bin ein schlichtes Gemüt, nehme ich an.«
»Und fragst du dich nicht, wozu das alles gut ist?« Ricky lachte. »Nein, Steve, ich nicht. Aber du. Du warst immer ein Denker. Schon als wir noch Kinder waren, hast du dir Fragen über Gott und die Welt gestellt.«
Das stimmte. Im Alter von dreizehn Jahren hatte Steve eine religiöse Phase durchlebt. Er hatte mehrere verschiedene Kirchen besucht, eine Synagoge und eine Moschee und einer Reihe erstaunter Geistlicher ernste Fragen über ihren Glauben gestellt. Steves Verhalten hatte seine Eltern - beide Agnostiker, denen religiöse Fragen gleichgültig waren - vor ein Rätsel gestellt.
»Aber du warst immer schon ein bißchen anders«, fuhr Ricky fort. »Ich habe nie jemanden gekannt, der bei Klassenarbeiten so gut abgeschnitten hat, ohne sich einen abzubrechen.«
Auch das stimmte. Steve hatte schon immer eine rasche Auffassungsgabe besessen und war mühelos zum Klassenbesten aufgestiegen. Nur wenn Mitschüler ihn hänselten, hatte es ihm Probleme bereitet. Dann hatte er absichtlich schlechte Leistungen gebracht, um nicht so sehr hervorzustechen.
Doch es gab noch einen weiteren Grund für Steves Neugier, was die eigene Psyche betraf. Ricky wußte nichts davon. Niemand an der Universität wußte davon. Nur seine Eltern. Steve wäre beinahe zum Mörder geworden.
Er war damals fünfzehn Jahre alt gewesen, ein dünner, aber bereits hochgewachsener Junge. Er war Kapitän der Basketballmannschaft. In jenem Jahre kam das Team der Hillsfield High School bis ins Halbfinale der Stadtmeisterschaft. Im Finale traten sie gegen eine Mannschaft rauhbeiniger Straßenschläger an, die von einer Schule aus den Slums von Washington kamen.
Einer der Gegenspieler, ein Junge namens Tip Hendricks, foulte Steve das ganze Match hindurch. Tip war
ein hervorragender Spieler, doch er setzte all sein Können ein, Steve auszutricksen. Und jedesmal grinste er, als wollte er sagen: »Hab’ ich’s dir wieder mal gezeigt, du Penner!« Es machte Steve rasend, doch er mußte seine Wut in sich hineinfressen - mit dem Erfolg, daß er schlecht spielte. Seine Mannschaft unterlag und vergab die Chance auf denTitel.
Nach dem Spiel wollte es ein unglücklicher Zufall, daß Steve seinem Kontrahenten auf dem Parkplatz über den Weg lief, auf dem die Mannschaftsbusse warteten, um die Teams zurück an die Schulen zu bringen.
Und wie das Pech es wollte, mußte ein Fahrer einen Reifen wechseln; neben dem Mann stand eine geöffnete Werkzeugkiste auf dem Boden.
Steve beachteteTip gar nicht, doch Tip schnippte seine Zigarettenkippe auf Steve, und sie brannte sich an seiner Jacke fest.
Die Jacke bedeutete Steve sehr viel. Er hatte an den Samstagen bei McDonalds gearbeitet, das Geld gespart und sich dafür erst tags zuvor das verdammte Ding gekauft. Es war eine wunderschöne butterfarbene Jacke aus weichem Wildleder - die nun aber ein Brandmal besaß, vorn, genau in Brusthöhe, wo man es nicht kaschieren konnte. Die Jacke war hinüber. Und Steve schlug zu.
Tip wehrte sich mit wilden Hieben, trat und stieß mit dem Kopf, doch Steves Wut war so groß, daß er wie betäubt war und die Schläge kaum spürte. Tips Gesicht war blutüberströmt, als sein Blick auf die Werkzeugkiste des Busfahrers fiel. Er schnappte sich einen Kreuzschlüssel und hämmerte ihn Steve zweimal ins Gesicht. Diese Schläge taten wirklich weh, und Steves Wut wandelte sich zu blindwütigem Vernichtungswillen. Er wrang Tip den Schlüssel aus den Händen - und dann konnte er sich später an nichts mehr erinnern.
Weitere Kostenlose Bücher