Der Dritte Zwilling.
Vergewaltigung. Auch sie war nervös. Ihre behagliche akademische Welt war in Unordnung geraten. Die Gedanken der Studenten schweiften immer wieder zu den Geschehnissen in der Sporthalle ab.
»Die beobachteten Unterschiede der menschlichen Intelligenz lassen sich durch drei Faktoren erklären«, sagte Jeannie. »Erstens: unterschiedliches Erbmaterial.
Zweitens: eine unterschiedliche Umwelt. Drittens: experimentelle Meßfehler.« Sie hielt inne, während die Studenten in ihre Notizbücher kritzelten.
Dieser Mechanismus war Jeannie aufgefallen. Jedesmal wenn sie irgend etwas vortrug, dem sie Zahlen voranstellte, schrieben die Studenten es nieder. Hätte sie einfach gesagt: »Unterschiedliches Erbmaterial, unterschiedliche Umwelt und experimentelle Meßfehler«, hätten die meisten ihr Schreibzeug nicht angerührt.
Seit Jeannie diese Beobachtung zum erstenmal gemacht hatte, verwendete sie bei ihren Vorlesungen so viele numerierte Listen und Aufzählungen wie nur möglich.
Sie war eine gute Lehrerin - was sie selbst ein wenig überraschte. Für gewöhnlich tat sie sich im Umgang mit Menschen schwer. Sie war ungeduldig, und sie konnte schroff sein - so wie an diesem Morgen zu Mish, der Sergeantin von der Abteilung für Sexualverbrechen. Doch sie konnte sich gut mitteilen, klar und deutlich, und es machte ihr Freude, Probleme und Zusammenhänge zu erklären und dann zu erleben, wie sich auf dem Gesicht eines Studenten aufkeimendes Begreifen zeigte.
»Wir können das auch als Gleichung darstellen«, fuhr Jeannie fort, drehte sich um und schrieb mit einem Stück Kreide auf dieTafel: V t = Vg + Ve + Vm
» Vt steht für die gesamte Streubreite. Vg ist das genetische Element, Ve der Faktor Environment, also soziales Umfeld, und Vm steht für den Meßfehler.«
Sämtliche Studenten notierten sich die Gleichung. »Genauso können wir bei allen meßbaren Unterschieden psychischer und physischer Natur verfahren, die zwischen Menschen bestehen, mag es sich dabei um Gewicht und Größe oder um ihren Glauben an Gott handeln. Die Sache hat allerdings einen Haken. Kann jemand von Ihnen mir sagen, worauf ich abziele?« Niemand meldete sich zu Wort, also gab Jeannie einen Hinweis. »Das Ganze kann größer sein als die Summe der Teile. Aber weshalb?«
Ein junger Mann hob die Hand. Es waren meist die männlichen Studenten; viele Studentinnen waren leider schüchtern. »Weil Gene und Umwelt sich gegenseitig beeinflussen und auf diese Weise die Wirkungen vervielfachen?«
»Genau. Die Gene lenken uns gewissermaßen zu bestimmten äußeren Erfahrungen hin und leiten uns von anderen fort. Babys mit unterschiedlichem Temperament veranlassen die Eltern, sie unterschiedlich zu behandeln.
Zurückhaltende, stille Kleinkinder haben andere Erfahrungen als aktive, extrovertierte. Auf der rechten Seite der Gleichung müssen wir also den Term Cge addieren, die Kovariante Gen-Umwelt.« Jeannie schrieb es auf die Tafel; dann warf sie einen Blick auf ihre Schweizer Armee-Uhr. Es war fünf vor vier.
»Noch Fragen?«
Zur Abwechslung war es eine Studentin, die sich zu Wort meldete: Donna-Marie Dickson, eine Krankenschwester in den Dreißigern, die beschlossen hatte, ein Studium zu absolvieren. Sie war intelligent, aber schüchtern. »Was ist mit den Osmonds?« fragte sie.
Allgemeines Gelächter im Hörsaal, und Donna-Marie errötete. Jeannie sagte ermunternd: »Erklären Sie genauer, was Sie meinen, Donna-Marie. Einige Kommilitonen sind zu jung, als daß sie die Osmonds kennen könnten.«
»Die Osmonds waren eine Popgruppe in den siebziger Jahren, alles Brüder und Schwestern. Eine Familie, in der alle musikalisch begabt waren. Aber es war kein Zwillingspaar darunter. Sie hatten also keine identischen Gene. Somit hat es den Anschein, als hätte die Umwelt die Osmonds zu begabten Musikern gemacht.
Wie beispielsweise auch die Jackson Five.« Wieder lachten die anderen, zumeist viel jüngeren Kommilitonen. Donna-Marie lächelte verlegen und fügte hinzu:
»Ich zeige anscheinend zu deutlich, wie alt ich bin.«
»Miß Dickson hat auf einen wichtigen Punkt hingewiesen. Ich bin erstaunt, daß niemand sonst darauf gekommen ist«, sagte Jeannie. Sie war ganz und gar nicht erstaunt, doch Donna-Marie brauchte ein bißchen Auftrieb für ihr Selbstvertrauen. »Charismatische und hingebungsvolle Eltern können bewirken, daß sich alle ihre Kinder einem bestimmten Ideal angleichen, wobei die genetische Ausstattung der Kinder eine untergeordnete Rolle
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