Der Dritte Zwilling.
versuchte nicht, sie zu schikanieren; er berührte sie nicht und tat so, als wäre es zufällig oder unabsichtlich; er zeigte keinen Zorn, keine Feindseligkeit. Er mochte Frauen und achtete sie. Er war kein Vergewaltiger.
»Steven«, sagte Jeannie, »soll ich jemanden für Sie anrufen? Ihre Eltern?«
»Nein«, erwiderte er bestimmt. »Sie würden sich Sorgen machen. Die Sache ist in ein paar Stunden geklärt. Dann werde ich’s ihnen selbst erzählen.«
»Erwarten Ihre Eltern Sie heute abend denn nicht zurück?«
»Ich habe ihnen gesagt, daß ich vielleicht noch bei Ricky bleibe.« Jeannie meinte zweifelnd: »Na ja, wenn Sie sicher sind, daß …«
»Ich bin sicher«, unterbrach Steven sie.
»Gehen wir«, sagte Mish ungeduldig.
»Was soll diese verdammte Eile?« fragte Jeannie scharf. »Müssen Sie noch weitere Unschuldige verhaften?«
Mish starrte sie zornig an. »Haben Sie mir sonst noch etwas zu sagen?«
»Was geschieht als nächstes?«
»Wir nehmen eine Gegenüberstellung vor. Wir lassen Lisa Hoxton entscheiden, ob dieser Mann sie vergewaltigt hat oder nicht.« Mit spöttischem, gespieltem Respekt fügte Mish hinzu: »Ist das in Ihrem Sinne, Dr. Ferrami?«
»Das ist einfach toll«, sagte Jeannie.
Kapitel 8
Sie brachten Steve in dem blaßblauen Dodge Colt in die Innenstadt. Die Polizistin fuhr, während ihr Kollege, ein massiger Mann mit Schnauzer, neben ihr saß. Es sah aus, als wäre der Bursche in den kleinen Wagen hineingequetscht worden.
Niemand sprach.
Steve kochte vor hilflosem Zorn. Mit welchem Recht, fragte er sich, verfrachten die mich in diese unbequeme Kiste, mit Handschellen gefesselt, wo ich doch in Jeannie Ferramis Wohnung sitzen könnte, einen kühlen Drink in der Hand? Die sollen bloß zusehen, daß sie diese Sache schleunigst aus der Welt schaffen, verdammt!
Die Polizeizentrale war ein rosafarbenes Gebäude aus Granitstein in Baltimores Rotlichtviertel, inmitten von Oben-Ohne-Bars und Pornoläden. Sie fuhren eine Rampe hinauf und stellten den Wagen auf dem überfüllten Parkplatz im Gebäudeinneren ab, auf dem Streifenwagen und andere billige Kleinwagen wie der Colt standen.
Die Beamten brachten Steve zu einem Aufzug und führten ihn in ein fensterloses Zimmer mit gelb gestrichenen Wänden. Sie nahmen ihm die Handschellen ab; dann ließen sie ihn allein. Steve vermutete, daß sie die Tür abschlössen, doch er prüfte es nicht nach.
Im Zimmer standen ein Tisch und zwei Plastikstühle mit nackten, harten Sitzflächen. Auf dem Tisch sah Steve einen Aschenbecher, in dem zwei Kippen lagen, beide von Filterzigaretten; an dem einen Filter war Lippenstift zu sehen. In dieTür war eine Scheibe undurchsichtiges Glas eingesetzt: Steve konnte nicht hindurchschauen, nahm jedoch an, daß man ihn von draußen beobachten konnte.
Als er den Aschenbecher betrachtete, stieg der Wunsch in ihm auf, eine Zigarette rauchen zu können. Dann hätte er in dieser gelben Zelle wenigstens etwas zu tun gehabt. Statt dessen schritt er auf und ab.
Er sagte sich, daß er unmöglich in ernsthaften Schwierigkeiten stecken konnte. Er hatte einen flüchtigen Blick auf das Bild werfen können, das auf dem Flugblatt zu sehen war. Auch wenn das Gesicht ihm ein bißchen ähnelte – es war nicht sein Gesicht. Zugegeben, nach dem Phantombild hätte er der Vergewaltiger sein können, doch wenn er bei der Gegenüberstellung in einer Reihe mit anderen hochgewachsenen jungen Männern stand, würde das Opfer bestimmt nicht auf ihn zeigen. Schließlich mußte die arme Frau ja einen langen und schmerzlichen Blick in das Gesicht des Schweinehunds geworfen haben, der sie vergewaltigt hatte: Das Gesicht des Täters mußte sich ihr Gedächtnis eingebrannt haben. Nein, ihr würde kein Irrtum unterlaufen.
Aber die Cops hatten kein Recht, ihn in dieser Zelle schmoren zu lassen! Okay, sie mußten ihn als Verdächtigen von der Liste streichen, und das ging nun mal nicht ohne weiteres. Aber deshalb brauchten sie ihn noch lange nicht den ganzen Abend hier festzuhalten. Schließlich war er ein gesetzestreuer Bürger.
Steve versuchte, das Positive an der Sache zu sehen. Immerhin bekam er nun einen direkten Einblick in das amerikanische Justizsystem. Er würde sein eigener Anwalt sein; eine bessere Übung gab es nicht. Wenn er später einen Mandanten verteidigte, der eines Verbrechens angeklagt war, würde er wissen, was der Betreffende im Polizeigewahrsam durchmachte.
Steve hatte schon einmal ein Polizeirevier von innen gesehen;
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