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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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hölzernen Gehsteigen oder auch gänzlich ungepflasterten Fußwegen voller tückischer tiefer Schlammlöcher wanderte er vorbei an endlosen Reihen dürftiger einstöckiger Holzhäuser. Alle paar Querstraßen kreuzte ein Bahngleis den Weg, eine Todesfalle für den Unachtsamen; lange Güterzüge mit scheppernden, an den Puffern gegeneinanderstoßenden Waggons fuhren vorüber, und vor Ungeduld fast vergehend, lief Jurgis wartend auf und ab. Gelegentlich blieb so ein Zug etliche Minuten mitten auf der Kreuzung stehen, und dann stauten sich die Fuhrwerke und Straßenbahnen, während die Kutscher und Fahrer sich gegenseitig anbrüllten oder unter Schirmen Schutz vor dem Regen suchten. Jurgis aber riskierte sein Leben, indem er unter der Schranke durchkroch und zwischen den Waggons über die Gleise rannte.
    Er passierte eine lange Brücke über einen Fluß, auf dessen Eisdecke dunkelgrauer Matsch lag. Selbst der Schnee an der Uferböschung sah nicht weiß aus – der Regen, der hier fiel, war das reinste Rußwasser, und Jurgis hatte Gesicht und Hände bald voller schlieriger Flecke. Dann kam er ins Geschäftsviertel der Stadt, wo die Fahrbahnen tintenschwarze glitschige Kloaken waren, auf denen Pferde den Halt verloren, so daß sie nach vorn und hinten ausschlugen, und die zu überqueren Frauen und Kinder nur im Pulk und im Laufschritt wagten. Die Straßen hier, gesäumt von turmhohen trübgrauen Gebäuden, bildeten tiefe Schluchten, in denen das Klingeln der Straßenbahnen und die Rufe der Kutscher widerhallten; die Menschen wimmelten wie die Ameisen darin umher – einer wie der andere atemlos hastend, ohne auch nur mal kurz anzuhalten, um sich Umwelt oder Mitmenschen anzusehen. Der wie ein Landstreicher wirkende Fremde mit seinen durchnäßten Sachen, den eingefallenen Wangen und bekümmerten Augen, der da an ihnen vorbeieilte, war hier ebenso allein, unbeachtet und verlassen wie in einer tausend Meilen von jeder Ansiedlung entfernten Wildnis.
    Ein Polizist zeigte ihm den Weg und sagte, es seien noch an die fünf Meilen. Jurgis kam wieder in die Slums, in Straßen mit Kneipen und billigen Läden, mit langen, schmutzigen roten Fabrikgebäuden, mit Kohlenplätzen und Bahngleisen. Da hob er den Kopf und begann die Luft zu schnuppern wie ein aufgestörtes Tier: In der Ferne witterte er die Gerüche der Heimat. Es war schon später Nachmittag, und er hatte Hunger, aber die an den Lokalen ausgehängten Einladungen zum Abendbrot waren nicht für ihn gedacht.
    So kam er schließlich zu den Yards, zu den schwarzen Rauchvulkanen, den brüllenden Rindern und dem Gestank. Als er eine überfüllte Straßenbahn sah, konnte er seine Ungeduld nicht mehr zügeln; er sprang auf und versteckte sich hinter einem anderen Fahrgast, so daß er vom Schaffner unbemerkt blieb. Zehn Minuten später hatte er seine Straße erreicht.
    Rennend bog er um die Ecke. Das Haus stand jedenfalls noch – doch plötzlich stutzte er und blieb stehen. Was war denn mit dem Haus los?
    Verwirrt schaute er genauer hin. Dann warf er einen Blick auf das nebenan, auf das gegenüber und schließlich auf die Kneipe an der Ecke. Ja, er war hier richtig, ganz sicher, hatte sich nicht geirrt. Aber das Haus – es hatte eine andere Farbe!
    Er ging ein paar Schritte näher. Tatsächlich, statt grau war es jetzt gelb. Die Fensterleibungen waren rot gewesen, jetzt aber glänzten sie grün. Es war alles neu gestrichen – wie fremd das aussah!
    Jurgis ging noch näher heran, blieb aber auf der anderen Straßenseite. Ihn überkam schreckliche Angst. Die Knie zitterten ihm, in seinem Kopf drehte sich alles. Ein neuer Außenanstrich, und dazu neue Schalbretter an den Stellen, wo die alten zu modern angefangen hatten, weshalb er von der Gesellschaft schon ermahnt worden war! Außerdem neue Schindeln über dem Loch im Dach – jenem Loch, das seit einem halben Jahr sein Alptraum war, weil er weder das Geld gehabt hatte, es instandsetzen zu lassen, noch die Zeit, das selber zu tun; es regnete durch, und die untergestellten Eimer und Schüsseln waren übergelaufen, so daß das Wasser den Dachboden überschwemmt und den Putzträger beschädigt hatte. Und jetzt war dieses Loch repariert! Auch die zerbrochene Fensterscheibe war erneuert! Und an den Fenstern hingen Gardinen, neue, strahlendweiße und steifgestärkte Gardinen!
    Plötzlich öffnete sich die Haustür. Jurgis stockte der Atem. Heraus trat ein Junge, ein strammer, rotbackiger Bursche, den er nie zuvor hier gesehen

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