Der Dschungel
Hoffnung fahren – und er war schon ganz in Verzweiflung versunken, als eines Morgens nach dem Frühstück ein Schließer zu ihm kam mit der Meldung, seine Zeit sei nun endgültig um. So vertauschte Jurgis die Sträflingskluft gegen seine alten, nach Dünger riechenden Sachen und hörte das Gefängnistor hinter sich zuschlagen.
Verwirrt stand er auf der Vortreppe und konnte es kaum glauben: Er hatte wieder den Himmel über sich und die offene Straße vor sich, war wieder ein freier Mensch. Doch dann drang die Kälte durch seine Kleider, und er machte sich rasch auf den Weg.
Es war viel Schnee gefallen, und jetzt hatte es angefangen zu tauen; ein schneidender Wind, der feinen Schneeregen vor sich hertrieb, fuhr Jurgis bis in die Knochen. Als er losgestürmt war, Connor fertigzumachen, hatte er sich nicht erst die Zeit genommen, seinen Mantel überzuziehen, und dann bei den Fahrten im Polizeiwagen furchtbar gefroren; seine Sachen waren abgetragen und fadenscheinig, hatten aber auch neu nie sehr warm gehalten. Als er jetzt dahinstapfte, weichte der Regen sie bald durch, und bei dem über knöchelhohen Schneematsch auf den Gehwegen hätte er sich auch ohne die Löcher in seinen Schuhsohlen nasse Füße geholt.
Jurgis hatte im Gefängnis satt zu essen bekommen, und die Arbeit dort war weniger anstrengend gewesen als alle anderen, die er hier in Chicago verrichtet hatte. Trotzdem war er nicht kräftiger geworden – dazu hatten Angst und Sorge zu sehr an ihm gezehrt. Jetzt fröstelte und zitterte er in dem Regen, vergrub die Hände in den Taschen und zog die Schultern hoch. Das Bridewell-Gelände lag außerhalb der Stadt in unbesiedelter und öder Gegend; auf der einen Seite zog sich der große Abwasserkanal hin und auf der anderen ein Labyrinth von Eisenbahngleisen, so daß der Wind ungehindert heranfegen konnte.
Als Jurgis schon einige Zeit gelaufen war, kam ihm ein Straßenjunge entgegen, und er rief ihn an: »Hallo, Kleiner!«
Der Junge zwinkerte ihm keß zu – an Jurgis’ kurzgeschorenen Haaren erkannte er, daß er einen »Knastbruder« vor sich hatte. »Was wolln Se denn?«
»Wie kommt man zu den Yards?«
»Indem man hingeht«, gab der Junge zurück.
Verdutzt zögerte Jurgis einen Augenblick. Dann sagte er: »Ich meine, wo muß ich lang?«
»Warum sagen Se das nich gleich?« Und der Junge wies nach Nordwesten über die Gleise. »Da rüber.«
»Wie weit ist es bis hin?«
»Keine Ahnung nich. Zwanzig Meilen oder so.«
»Zwanzig Meilen!« Jurgis machte ein langes Gesicht. Er mußte die ganze Strecke zu Fuß gehen, denn sie hatten ihn ohne einen Cent in der Tasche entlassen.
Doch als er erst einmal unterwegs war und ihm vom Laufen warm wurde, vergaß er im Fieber seiner Gedanken alles andere. Die Angstvorstellungen, die ihn in seiner Zelle verfolgt hatten, kehrten jetzt wieder, schossen ihm alle auf einmal durch den Kopf. Aber die quälende Ungewißheit würde ja bald ein Ende haben, und er ballte die Hände in den Taschen, während er kräftig ausschritt, ja fast rannte, seiner vorauseilenden Sehnsucht hinterher. Ona, der kleine Antanas, die Familie, das Haus – nicht mehr lange, und er würde wissen, was wirklich mit allen war. Und er befand sich auf dem Weg, ihnen zu Hilfe zu kommen – er war ja wieder frei! Mit seinen Händen, die jetzt wieder ihm gehörten, konnte er ihnen helfen, konnte für sie den Kampf mit der Welt aufnehmen.
Nachdem er etwa eine Stunde so marschiert war, begann er sich umzuschauen. Er schien sich von der Stadt zu entfernen. Die Straße wurde zur Landstraße und führte nach Westen; zu beiden Seiten lagen schneebedeckte Felder. Nach einer Weile begegnete er einem Farmer auf einem von zwei Pferden gezogenen und mit Stroh beladenen Wagen.
Jurgis hielt ihn an und fragte: »Ist das hier der Weg zu den Yards?«
Der Farmer kratzte sich am Kopf. »Genau weiß ich auch nicht, wo die liegen tun«, sagte er. »Aber jedenfalls sind die irgendwo drinnen in der Stadt, und Sie gehn ja just entgegengesetzt.«
Jurgis schaute verdattert drein. »Man hat mir doch aber gesagt, ich muß in diese Richtung hier.«
»Wer?«
»Ein Junge.«
»Sieht ganz so aus, als hätt der Ihnen einen Bären aufgebunden. Am besten, Sie gehn wieder zurück, und wenn Sie in der Stadt sind, fragen Sie ‘nen Polizisten. Ich tät Sie ja mitnehmen, aber ich hab schwer geladen und bin schon lange unterwegs. Hü!«
Jurgis machte also kehrt, folgte dem Wagen, und gegen Mittag dann erblickte er Chicago wieder. Auf
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