Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
Vom Netzwerk:
Vagabunden hierher überführt wurden. Als Zellengenossen hatte Jurgis einen italienischen Obstverkäufer, der sich geweigert hatte, den Polizisten Prozente zu zahlen, und dann wegen Tragens eines großen Taschenmessers verhaftet worden war; da er kein Wort Englisch verstand, war unser Freund froh, als er entlassen wurde. Sein Nachfolger war ein norwegischer Seemann, der im Suff bei einer Schlägerei ein Ohr eingebüßt hatte. Er erwies sich als streitsüchtig, denn er meckerte mit Jurgis, wenn der sich auf seiner Pritsche umdrehte und dadurch die Kakerlaken aus der oberen auf die untere fielen. Mit diesem Raufbold in einer Zelle zu leben wäre unerträglich gewesen, hätten die Häftlinge nicht tagsüber draußen Steine klopfen müssen.
    Von den dreißig Tagen vergingen zehn, ohne daß Jurgis etwas von seiner Familie hörte. Am elften kam ein Schließer und sagte ihm, er habe Besuch. Jurgis erblaßte, und ihm wurde so weich in den Knien, daß er kaum imstande war, seine Zelle zu verlassen.
    Der Wärter führte ihn den Gang entlang und eine Treppe hinunter zum Besuchsraum, dessen eine Wand genau wie bei den Zellen aus einem Gitter bestand. Durch dieses hindurch sah Jurgis jemanden auf einem Stuhl sitzen, und als er hereinkam, stand der auf, und er erkannte, daß es der kleine Stanislovas war. Der Anblick eines vertrauten Gesichtes von daheim ließ den hünenhaften Mann fast zusammenbrechen – er mußte sich auf einen Stuhl stützen und fuhr sich mit der anderen Hand über die Stirn, wie um einen Nebel wegzuwischen. »Nun?« sagte er mit schwacher Stimme.
    Stanislovas zitterte ebenfalls und bekam vor lauter Angst kaum den Mund auf. »Sie ... sie haben mich hergeschickt, um dir zu sagen ...« Er schluckte.
    »Nun?« wiederholte Jurgis. Er sah, wie die Augen des Jungen dorthin gingen, wo der Wärter stand und sie beobachtete. »Laß dich durch den nicht stören«, rief Jurgis ungeduldig. »Wie geht es allen?«
    »Ona ist sehr krank«, sagte Stanislovas, »und wir sind am Verhungern. Wir wissen nicht mehr weiter und dachten, vielleicht kannst du uns helfen.«
    Jurgis umklammerte die Stuhllehne fester; auf seiner Stirn stand Schweiß, und seine Hand bebte. »Nein ... das ... kann ... ich ... nicht«, kam es langsam von seinen Lippen.
    »Ona liegt den ganzen Tag in eurem Zimmer«, fuhr der Junge atemlos fort. »Sie ißt überhaupt nichts und weint nur immerzu. Sie will nicht sagen, was sie hat, und arbeiten geht sie auch nicht mehr. Und dann, schon vor ‘ner Weile, war der Mann da und wollte die Miete. Er war wer weiß wie böse. Vorige Woche ist er noch mal gekommen. Er hat gesagt, er setzt uns aus dem Haus raus. Und Marija ...« Ein Schluchzen würgte Stanislovas, und er konnte nicht weitersprechen.
    »Was ist mit Marija?« rief Jurgis.
    »Sie hat sich in die Hand geschnitten!« sagte der Junge. »Diesmal ganz schlimm, viel schlimmer als sonst. Sie kann nicht arbeiten, denn die Hand wird immer grüner, und der Doktor in ihrem Betrieb hat gesagt, daß sie ihr vielleicht abgenommen werden muß. Marija weint in einem fort. Ihr Geld ist auch fast alle, und wir können die Miete und die Zinsen nicht bezahlen, und Kohlen haben wir auch keine und nichts mehr zu essen, und der Kaufmann hat erklärt ...« Er stockte erneut und wimmerte vor sich hin.
    »Weiter!« stieß Jurgis erregt hervor. »Weiter!«
    »Ja doch«, schluchzte Stanislovas. »Es ... es ist immer so fürchterlich kalt. Und letzten Sonntag gab’s wieder Schnee ... ganz, ganz hohen ... und am Montag konnte ich nicht zur Arbeit durchkommen.«
    »Herrgott noch mal!« Jurgis brüllte es fast und trat einen Schritt auf den Jungen zu. Zwischen ihnen beiden bestand ein alter Groll wegen des Schnees – seit jenem schrecklichen Morgen, als Stanislovas die Finger erfroren waren und Jurgis ihn fortan immer verdreschen mußte, damit er zur Arbeit ging. Jetzt ballte Jurgis die Fäuste und sah aus, als wollte er das Gitter durchbrechen. »Du kleines Miststück hast es gar nicht erst versucht!«
    »Doch, hab ich!« jammerte Stanislovas und wich angstvoll vor ihm zurück. »Immer wieder – zwei Tage lang. Mutter war mit, und sie ist auch nicht durchgekommen. Wir konnten gar nicht laufen, so hoch lag der Schnee. Zu essen hatten wir auch nichts, und ... ach, es war ja so schaurig kalt! Ich hab’s versucht, wirklich, und am dritten Tag ist Ona mitgegangen ...«
    »Ona?!«
    »Ja, sie wollte arbeiten gehen. Mußte sie doch. Wir hatten alle solchen Hunger. Aber sie war ihre Stelle

Weitere Kostenlose Bücher