Der Dschungel
sie nicht ersäufen, denn sein Geld hatte Elzbieta in Verwahrung genommen, und sie kannte ihn zu gut, um sich durch seine drohenden Forderungen auch nur im geringsten einschüchtern zu lassen; dafür hockte er auf dem Dachboden und brütete vor sich hin: Wozu sich überhaupt eine Arbeit suchen, wenn man sie ja doch wieder los wird, noch ehe man Zeit gehabt hat, sie zu erlernen? Aber in ihrer Kasse setzte bereits wieder Ebbe ein, und der kleine Antanas hatte Hunger und weinte, weil es oben unterm Dach so kalt war; außerdem wollte Madame Haupt, die Hebamme, etwas von ihrem Geld sehen. Also machte er sich wieder auf die Suche.
Zehn Tage lang streifte er durch die Straßen und Gassen der Riesenstadt, hundeelend und hungrig, und bettelte um Arbeit, egal welcher Art. Er versuchte es in Geschäften und Büros, in Restaurants und Hotels, im Hafen und auf den Verschiebebahnhöfen, in Depots und Lagerhäusern, in großen und kleinen Fabriken, deren Erzeugnisse in die ganze Welt hinausgingen. Ein, zwei freie Stellen fanden sich öfter, aber für jede waren immer gleich hundert Bewerber da, und er kam nicht an die Reihe. Er nächtigte in Schuppen, Kellern und Torwegen – bis plötzlich der Winter noch einmal zurückkehrte, mit Schneesturm und Temperaturen von schon bei Sonnenuntergang zwanzig Grad unter Null und nachts natürlich entsprechend mehr. Da kämpfte Jurgis wie eine Bestie, um in die große Polizeiwache in der Harrison Street hineinzukommen, und schlief dort im Treppenflur, der so überfüllt war, daß er sich mit zwei anderen Männern eine einzige Stufe teilen mußte.
Kämpfen mußte er in diesen Tagen überhaupt oft: um einen vorderen Platz an den Fabriktoren und hin und wieder auch mit Banden auf der Straße. Beispielsweise stellte er fest, daß das Geschäft, Reisenden die Koffer zu tragen, in festen Händen war – sobald er sich darin versuchen wollte, fielen acht bis zehn Männer und Jungen über ihn her, und er mußte um sein Leben rennen. Vom nächsten Polizisten ließ sich da kein Schutz erwarten, denn der war stets geschmiert.
Daß Jurgis nicht verhungerte, verdankte er einzig und allein den paar Cents, die die Kinder ihm brachten. Aber selbst damit konnte er nicht fest rechnen, denn zum einen war die Kälte so schlimm, daß an manchen Tagen die Kinder gar nicht kommen konnten, und zum anderen liefen auch sie ständig Gefahr, von Rivalen beraubt und verprügelt zu werden. Zudem hatten sie das Gesetz gegen sich – der kleine Vilimas, der zwar schon zwölf war, aber wie ein Neunjähriger aussah, wurde einmal auf der Straße von einer strengblickenden Dame mit Lorgnon angehalten und mußte sich von ihr sagen lassen, er sei noch zu jung zum Arbeiten, und wenn er nicht aufhört mit dem Zeitungsverkaufen, lasse sie ihn vom Jugendamt wegholen. Und Kotrina wurde eines späten Abends von einem fremden Mann am Arm gepackt, der sie dann in einen dunklen Kellergang locken wollte, ein Erlebnis, das sie so mit Angst erfüllte, daß sie kaum noch zu bewegen war weiterzuarbeiten.
Schließlich fuhr Jurgis an einem Sonntag, an dem sowieso keine Arbeit zu finden war, mit der Straßenbahn schwarz nach Hause. Dort warteten sie schon seit drei Tagen auf ihn – es bestand Aussicht, daß er eine Stelle bekommen würde.
Es war eine lange Geschichte. Der kleine Juozapas, in diesen Tagen vor Hunger halb verrückt, war hinaus auf die Straße gegangen, um selber zu betteln. Juozapas hatte nur ein Bein, denn er war als kleines Kind von einem Wagen überfahren worden, aber er hatte sich einen Besenstiel verschafft, den er als Krücke unter den Arm klemmte. Draußen war er mit anderen Kindern bekannt geworden und mit denen mitgegangen zu Mike Scullys Müllkippe, drei oder vier Straßen entfernt. Dort kamen jeden Tag Hunderte Wagenladungen Abfall und Gerümpel aus dem Viertel am See an, wo die reichen Leute wohnten, und in diesen Haufen stöberten die Kinder nach Eßbarem: Brotkanten, Kartoffelschalen, Apfelgehäusen, Fleischknochen, alles halb gefroren und daher noch unverdorben. Juozapas schlang sich den Bauch voll und brachte dann noch, in eine Zeitung gewickelt, eine Menge mit nach Hause. Er fütterte gerade den kleinen Antanas damit, als seine Mutter heimkam. Elzbieta erstarrte vor Schreck, denn sie konnte nicht glauben, daß Lebensmittel aus dem Müll noch genießbar seien. Als am nächsten Tag aber keiner krank geworden war und Juozapas vor Hunger zu weinen anfing, gab sie nach und erlaubte ihm, wieder hinzugehen. Und bei
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