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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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vereinbarten sie, daß sich jeden Tag eines der Kinder mit ihm treffen und ihm fünfzehn Cent von ihrem Verdienst geben sollte. Dann würde er gleich Hunderten und aber Hunderten anderer Obdachloser den ganzen Tag herumlaufen müssen, um in Kaufhäusern, Speichern und Fabriken nach Arbeit zu fragen, und abends in einen Torweg oder unter ein Fuhrwerk kriechen und sich dort verbergen, bis er um Mitternacht vielleicht in eine Polizeiwache hineinkam, wo er sich dann auf dem Fußboden auf eine Zeitung legen konnte, mitten unter Bettlern und Pennern, die nach Schnaps und Tabak stanken, vor Schmutz starrten und Läuse und alle möglichen Krankheiten hatten.
     
    So rang Jurgis weitere zwei Wochen mit dem Dämon der Verzweiflung. Einmal hatte er Glück und durfte einen halben Tag lang Rollwagen beladen, ein andermal trug er einer alten Frau die Reisetasche und bekam dafür einen Vierteldollar. Das verdiente Geld ermöglichte ihm, mehrere Nächte, in denen er sonst vielleicht erfroren wäre, in einem Logierhaus zu schlafen und sich ab und zu auch eine Morgenzeitung zu kaufen, die Stellenangebote durchzugehen und dort schon hinzueilen, wenn seine Konkurrenten noch darauf warteten, daß jemand eine Zeitung wegwarf. So groß war der Vorteil aber auch wieder nicht, denn es ging ihm dadurch kostbare Zeit verloren, und er mußte mühsame Wege machen, die sich dann als umsonst herausstellten. Gut die Hälfte der Annoncen war nämlich reiner Dummenfang, stammte von mannigfachsten Agenturen, die die Hilflosigkeit und Unwissenheit der Arbeitslosen skrupellos ausnutzten. Schilderte ihm so ein zungenfertiger Agent, was für phantastische Stellen er an der Hand habe, konnte Jurgis immer nur traurig den Kopf schütteln und sagen, er sei außerstande, den erforderlichen Dollar einzuzahlen; erklärte man ihm, wie er und seine ganze Familie mit dem Kolorieren von Photographien »schweres Geld« verdienen könnten, blieb ihm nur zu antworten, er werde wiederkommen, wenn er die zwei Dollar für die nötige Ausrüstung hat.
    Daß Jurgis zuletzt doch noch etwas fand, kam durch die zufällige Begegnung mit einem alten Bekannten aus seiner Gewerkschaftszeit. Der war gerade auf dem Weg zu seiner Arbeit in der riesigen Fabrikanlage des Erntemaschinen-Trusts, und er forderte ihn auf, doch mitzukommen; er wolle bei seinem Werkmeister, mit dem er sich gut steht, ein Wort für ihn einlegen. So marschierte Jurgis die vier oder fünf Meilen mit und kam dann im Geleit seines Freundes ungehindert durch die Masse der am Tor wartenden Arbeitslosen hindurch. Ihm wurde ganz schwach in den Knien, als der Meister, nachdem er ihn gemustert und ausgefragt hatte, zu ihm sagte, es werde sich etwas für ihn finden.
    Was er dieser Zufallsbegegnung zu verdanken hatte, wurde Jurgis erst nach und nach klar – dieses Werk gehörte zu jenen Fabriken, auf die Philanthropen und Reformer voller Stolz hinwiesen. Hier dachte man an seine Arbeiter: Die Werkstätten waren groß und geräumig, es gab eine Kantine, wo die Arbeiter gutes Essen zum Selbstkostenpreis bekommen konnten, es gab ordentliche Ruheräume für die Frauen, ja es gab sogar einen Lesesaal; außerdem war die Arbeit nicht so schmutzig und ekelerregend wie in den Schlachthöfen. Jeden Tag entdeckte Jurgis mehr von solchen nicht einmal im Traum erwarteten Dingen, bis ihm seine neue Arbeitsstelle wie ein Himmel auf Erden vorkam.
    Es war ein riesengroßes Unternehmen, das eine Fläche von einer Viertelquadratmeile einnahm, fünftausend Leute beschäftigte und jährlich über dreihunderttausend landwirtschaftliche Maschinen produzierte – die meisten der im Lande verwendeten kamen von hier. Jurgis sah natürlich nur sehr wenig davon, denn es war alles spezialisierte Arbeit, genau wie in den Yards; jedes der -zig Einzelteile einer Erntemaschine wurde für sich hergestellt, und manche gingen durch die Hände Hunderter von Arbeitern. Wo Jurgis arbeitete, gab es eine Maschine, die ein bestimmtes, etwa zwei Quadratzoll großes Stahlplättchen ausstanzte. Die Stücke fielen auf ein Tablett, und alles, was Menschenhänden zu tun blieb, waren das Aufstapeln der Plättchen in gleichmäßigen Reihen und das Auswechseln der vollen Tabletts. Erledigt wurde das von einem einzigen Jungen, der mit ganz darauf konzentrierten Augen und Gedanken dastand und dessen Finger so schnell flogen, daß das Gegeneinanderklirren der Stahlstückchen wie die Musik eines Schnellzugs klang, die man nachts im Schlafwagen hört. Das war natürlich

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