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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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der Heimkehr am Nachmittag hatte der Junge dann etwas Interessantes zu erzählen. Während er dort mit einem Stock herumstocherte, habe ihn von der Straße her eine Dame zu sich gerufen. Eine richtige feine Dame, erklärte der Kleine, und wunderschön. Sie habe alles über ihn wissen wollen: ob er den Abfall für die Hühner holt, warum er an einem Besenstiel geht, warum Ona gestorben ist, warum Jurgis ins Gefängnis mußte, was Marija hat und überhaupt alles. Zum Schluß habe sie ihn noch gefragt, wo er wohnt, und gesagt, sie will ihn mal besuchen kommen und ihm eine richtige Krücke bringen. Sie hätte einen Hut aufgehabt mit einem Vogel drauf, fügte Juozapas hinzu, und um den Hals eine ganz lange Schlange aus Pelz.
    Sie kam tatsächlich, schon am nächsten Vormittag, kletterte die Leiter hinauf und schaute sich das Quartier der Familie an; beim Anblick der Blutflecke auf dem Boden, dort, wo Ona gestorben war, wurde sie bleich. Sie arbeite und wohne im »Stockyards Settlement« dem sozialen Hilfswerk drüben in der Ashland Avenue, erklärte sie. Elzbieta sagte, sie wisse, wo das ist, direkt über einer Futtermittelhandlung; jemand habe ihr geraten, da doch mal hinzugehen, aber sie hätte das nicht gewollt, denn das habe sicher was mit Religion zu tun, und der Priester sehe es nicht gern, wenn sie sich mit einem anderen Glauben einlassen. Da zögen reiche Leute hin, die erfahren wollen, wie die Armen leben, aber was sie sich davon versprechen, wär ihr unerfindlich. Elzbieta sagte das alles ganz treuherzig, und die junge Dame lachte und war um eine Antwort verlegen – sie stand nur da, ließ die Augen in die Runde schweifen und mußte an eine zynische Bemerkung denken, die einmal jemand zu ihr gemacht hatte, nämlich daß sie am Rande des Höllenfeuers stehe und Schneebälle hineinwerfe, um die Temperatur zu senken.
    Elzbieta war froh, jemanden zu haben, dem sie ihr Herz ausschütten konnte, und sie berichtete, was sie alles für Leid getroffen habe: die Sache mit Ona, das Gefängnis, wie sie das Haus losgeworden seien, Marijas Unfall, Onas Tod und daß Jurgis keine Arbeit finden könne. Beim Zuhören stiegen der jungen Dame Tränen in die Augen, und mittendrin brach sie in Schluchzen aus und verbarg das Gesicht an Elzbietas Schulter, ohne Rücksicht darauf, daß die eine schmutzige alte Kittelschürze anhatte und es auf dem Dachboden von Flöhen wimmelte. Der armen Elzbieta war es peinlich, eine so traurige Geschichte erzählt zu haben, und die junge Dame mußte lange bitten, ehe sie fortfuhr. Das Ende vom Lied war, daß sie ihnen einen Korb mit Lebensmitteln schickte und außerdem einen Brief daließ, mit dem Jurgis zu einem Herrn gehen sollte, der eine leitende Stellung in einem der großen Stahlwerke im Süden der Stadt hatte. »Er wird dafür sorgen, daß man ihm dort irgendwo Arbeit gibt«, hatte sie gesagt und unter Tränen lächelnd hinzugefügt: »Sonst heirate ich ihn nicht.«
     
    Die Stahlwerke lagen fünfzehn Meilen weit weg, und wie üblich war es so eingerichtet, daß man zweimal Fahrgeld bezahlen mußte, um dort hinzugelangen. Weit und breit leuchtete der Himmel rot von der Lohe, die aus Reihen turmhoher Schlote herausloderte, denn es war noch stockdunkel, als Jurgis ankam. Der ausgedehnte Komplex, eine Stadt für sich, war von einem Zaun umgeben, und an dem Tor, wo neue Arbeitskräfte eingestellt wurden, warteten bereits an die hundert Mann. Bald nach Tagesanbruch ertönten Fabriksirenen, und urplötzlich erschienen Tausende von Menschen; sie strömten herbei aus den Kneipen und Logierhäusern gegenüber oder kamen von vorbeifahrenden Straßenbahnen gesprungen – im grauen Licht der Morgendämmerung sah es aus, als wüchsen sie aus dem Boden. Sie ergossen sich durch das Tor, und dann verebbte der Strom allmählich, bis man nur noch vereinzelte Zuspätkommende heranrennen sah und den auf und ab gehenden Wachmann sowie die hungrigen Arbeitsuchenden, die kältebibbernd von einem Bein aufs andere traten.
    Jurgis legte sein kostbares Schreiben vor. Der Pförtner war mürrisch und stellte ihm eine ganze Liste von Fragen, aber Jurgis erklärte, nicht zu wissen, was in dem Brief stehe, und da er ihn vorsichtshalber zugeklebt hatte, blieb dem Mann nichts weiter übrig, als ihn an den Adressaten weiterzuleiten. Ein Bote kam zurück mit dem Bescheid, Mr. Rudkus solle warten. So durfte Jurgis das Tor passieren, und vielleicht hatte er nicht einmal besonderes Mitleid mit den anderen, die weniger Glück

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