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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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Erfahrung, sagte er sich, und er werde durchhalten, mochten andere dabei auch draufgehen. In linden Nächten würde er im Park oder auf einem Wagen, in einer leeren Tonne oder Kiste schlafen, und bei Regen oder Kälte würde er sich in einer Zehn-Cent-Absteige eine Pritsche mieten oder sich für drei Cent das Recht erwerben, im Flur eines Mietshauses zu nächtigen. Ernähren würde er sich von dem freien Essen in den Kneipen und sich das immer nur mit einem einzigen Schnaps für fünf Cent erkaufen, nie mehr. So könnte er sich mindestens zwei Monate über Wasser halten, und in dieser Zeit gelinge es ihm sicher, Arbeit zu finden. Seiner sommerlichen Sauberkeit müsse er natürlich Lebewohl sagen, denn schon nach der ersten Nacht in einem Logierhaus würden seine Sachen von Ungeziefer wimmeln. Nirgendwo in der Stadt gab es für ihn eine Möglichkeit, sich auch nur das Gesicht zu waschen, es sei denn am Ufer des Sees, und der fror ja bald zu.
    Zuerst ging er zu den Stahlwerken und dann zu den Erntemaschinenwerken, aber wie kaum anders zu erwarten, waren seine alten Stellen längst besetzt. Um die Yards machte er einen großen Bogen – er sei jetzt frei und ledig, sagte er sich, und wolle das auch bleiben, wolle, wenn er Arbeit bekommt, seinen Lohn für sich allein haben. Er begann nun mit der langen, beschwerlichen Runde durch die Fabriken und Lagerhäuser, marschierte den ganzen Tag von einem Ende der Stadt zum anderen, doch immer waren schon zwischen zehn und hundert Mann vor ihm da. Er sah auch die Zeitungen durch, aber von zungenfertigen Vermittlern ließ er sich jetzt nichts mehr erzählen; über deren Maschen war er während seiner Walzenzeit aufgeklärt worden.
    Am Ende aber, nach fast einem Monat vergeblichem Suchen, fand er doch durch eine Zeitungsannonce Arbeit. Inseriert war nach hundert Arbeitern, und obwohl er das für eine Finte hielt, ging er hin, weil es kein weiter Weg war. Er fand eine Warteschlange vor, die einen Häuserblock lang war, aber als zufällig aus einer Ausfahrt ein Fuhrwerk herauskam und die Reihe durchbrach, erkannte er seine Chance und sprang in die Lücke. Die anderen drohten ihm und suchten ihn wieder hinauszudrängen, doch da begann er lautstark zu schimpfen, um einen Polizisten aufmerksam zu machen, woraufhin sie Ruhe gaben, da sie wußten, wenn der sich einmischte, würde er sie alle davonjagen.
    Ein, zwei Stunden später stand Jurgis in einem Büro vor einem Schreibtisch, hinter dem ein vierschrötiger Ire saß.
    »Wo haben Sie schon in Chicago gearbeitet?« fragte der, und ob es ihm nun ein Schutzengel oder sein inzwischen geschärfter Verstand eingab, jedenfalls antwortete Jurgis: »Noch nirgends, Sir.«
    »Woher kommen Sie?«
    »Aus Kansas City, Sir.«
    »Haben Sie Zeugnisse?«
    »Nein, Sir. Ich bin bloß ungelernter Arbeiter. Aber ich habe kräftige Arme.«
    »Ich brauche Leute für Schwerarbeit. Alles unterirdisch, Ausschachten von Stollen für Telephonkabel. Vielleicht sagt Ihnen das nicht zu?«
    »Doch, doch, Sir. Mir ist jede Arbeit recht. Was zahlen Sie Lohn?«
    »Fünfzehn Cent die Stunde.«
    »Bin einverstanden, Sir.«
    »Gut. Gehen Sie dort rüber und lassen Sie ihre Personalien aufnehmen.«
    Eine halbe Stunde später war Jurgis bereits beim Arbeiten tief unter den Straßen Chicagos. Für Telephonleitungen war das ein merkwürdiger Stollen: gut zweieinhalb Meter hoch, fast ebenso bereit, mit ganz ebenem Boden, und es gingen unzählige Abzweigungen von ihm ab – das reinste Spinnennetz unter der Stadt. Jurgis lief mit seiner Kolonne über eine halbe Meile zu der Stelle, wo sie arbeiten sollten. Noch seltsamer war, daß der Stollen elektrisches Licht hatte und daß eine zweigleisige Schmalspurbahn hindurchführte.
    Aber Jurgis war nicht hier unten, um Fragen zu stellen, und er dachte über diese Sache nicht weiter nach. Erst nahezu ein Jahr später sollte er erfahren, welche Bewandtnis das Ganze hatte. Vom Magistrat war in aller Stille ein harmloser kleiner Erlaß verabschiedet worden, der einer Firma die Genehmigung erteilte, unter den Straßen der Stadt Telephonleitungen zu verlegen, und kraft dessen hatte dann eine große Aktiengesellschaft begonnen, ganz Chicago mit einem Untergrundbahnnetz für Güterverkehr zu untertunneln. Es gab in der Stadt einen Interessenverband von Arbeitgebern, der etliche hundert Millionen Dollar Kapital repräsentierte und den man eigens zu dem Zweck gegründet hatte, die Gewerkschaften kirre zu kriegen. Größter Dorn im Auge war ihnen

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