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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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die der Fuhrleute, und wenn diese Frachttunnel einmal fertig waren und all die großen Fabriken und Lager mit den Güterbahnhöfen verbanden, konnte der Fuhrmannsgewerkschaft die Luft gedrosselt werden. Ab und an kam die Sache im Magistrat gerüchtweise zur Sprache, und einmal wurde sogar ein Untersuchungsausschuß gebildet – aber dann wechselte jedesmal ein kleines Vermögen den Besitzer, und das Munkeln verstummte, bis schließlich die Stadt aus dem Schlaf schreckte und sich vor vollendete Tatsachen gestellt sah. Natürlich gab es einen Riesenskandal; es kam heraus, daß die Sitzungsberichte des Magistrats gefälscht und noch andere betrügerische Schiebungen gemacht worden waren, und ein paar von Chicagos größten Kapitalisten wanderten hinter Gitter – selbstredend nur theoretisch. Die Stadträte erklärten, sie hätten von all dem nichts gewußt, ungeachtet der Tatsache, daß sich der Haupteingang zu der Anlage unmittelbar hinter der Kneipe befand, die einem von ihnen gehörte.
    Jurgis arbeitete in einem gerade erst begonnenen Abschnitt, und so war ihm klar, daß er den Winter hindurch Arbeit haben würde. Vor Freude darüber leistete er sich am Abend ein kleines Besäufnis, und mit dem Rest seines Geldes nahm er sich eine Dauerschlafstelle in einem Mietskasernenzimmer, wo er sich mit vier, fünf anderen Arbeitern eine große selbstgemachte Strohmatratze teilen mußte. Das kostete einen Dollar die Woche, und für vier weitere ging er in einem Kosthaus nahe seiner Arbeitsstelle in Verpflegung. So blieben ihm jede Woche vier Dollar übrig, für ihn eine unvorstellbare Summe. Am Anfang hatte er noch die Ausgaben für sein Werkzeug und auch für ein Paar feste Stiefel, denn seine Schuhe gingen schon aus dem Leim, sowie für ein Flanellhemd, da das eine, das er den ganzen Sommer getragen hatte, nur noch aus Fetzen bestand. Eine Woche lang überlegte er, ob er sich auch einen Mantel kaufen solle. Er konnte einen bekommen, der einem jüdischen Hausierer mit Kurzwaren gehört hatte; der Mann war in dem Zimmer nebenan gestorben, und die Wirtin hatte seinen Überzieher als Miete einbehalten. Jurgis meinte dann aber, ohne Mantel auskommen zu können, da er ja tagsüber unter der Erde und nachts im Bett sei.
    Eine glückliche Entscheidung war das freilich nicht, denn nun trieb ihn die Kälte um so schneller in die Kneipen. Jurgis arbeitete jetzt von früh um sieben bis abends halb sechs mit dazwischen einer halben Stunde Mittagspause, was bedeutete, daß er an den Werktagen niemals die Sonne zu sehen bekam. Abends blieb ihm nur, in ein Lokal zu gehen; nirgends sonst war Licht und Wärme, nirgends sonst konnte er ein bißchen Musik hören oder mit einem Bekannten sitzen und plaudern. Ein Zuhause hatte er nicht mehr, und es gab auch keine Liebe in seinem Leben – nur einen kläglichen Ersatz dafür in der Kumpanei des Lasters. Sonntags waren die Kirchen offen, aber ein übelriechender Arbeiter, dem Läuse über den Kragen krochen, in welcher Kirche konnte der sitzen, ohne daß die Leute von ihm wegrückten und die Nase rümpften? Nun ja, er hatte seine Ecke in einem stickigen, obwohl ungeheizten Zimmer mit Blick auf eine kaum mehr als anderthalb Meter entfernte kahle Mauer, und er hatte auch die tristen Straßen, durch die die Winterstürme fegten; davon abgesehen blieben ihm nur die Kneipen – und um sich dort aufhalten zu können, mußte er natürlich trinken. Bestellte er sich ab und zu ein Glas, durfte er es sich bequem machen, mit Würfeln, speckigen Karten oder auf einem schmutzigen Billard um Geld spielen oder sich eine bierfleckige rosa »Sportzeitung« mit Bildern von Mördern und halbnackten Frauen anschauen. Für solche Vergnügungen gab er sein Geld hin, und so sah sein Leben während der sechseinhalb Wochen aus, die er für die Großkaufleute von Chicago schuftete, damit sie die Macht der Fuhrmannsgewerkschaft brechen konnten.
    Bei einem so heimlich durchgezogenen Objekt wie diesem machte man sich nicht viel Gedanken um das Wohl der Arbeiter. Im Schnitt kostete der Tunnelbau täglich ein Menschenleben und mehrere schwere Verletzungen, doch erfahren von jedem dieser Unfälle selten mehr als ein, zwei Dutzend Leute. Es wurde zwar mit den neuen Bohrmaschinen gearbeitet und so wenig wie möglich gesprengt, doch schloß das nicht aus, daß Gestein herabstürzte, Stützen zusammenbrachen und Explosionen vorzeitig losgingen; hinzu kamen noch die durch den Schienenverkehr bedingten Gefahren. Und so geschah es, daß

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